Infolge der russischen Oktoberrevolution löste sich das Großfürstentum Finnland vom russischen Zarenreich und proklamierte am 6. Dezember 1917 seine staatliche Unabhängigkeit. Einem sozialistischen Umsturzversuch am 27. Januar 1918 folgte der mehrmonatige finnische Bürgerkrieg zwischen „Roten“ und bürgerlichen „Weißen“, der mit der Kapitulation der letzten roten Truppen am 5. Mai 1918 endete. Nach dem Wahlsieg republikanischer Kräfte vom März 1919 wurde am 21. Juni desselben Jahres die parlamentarische Republik Finnland ausgerufen.
Rom:nja in Finnland
Die finnischen Rom:nja, deren damalige Gesamtzahl auf etwa 4 000 geschätzt wird, erhielten genauso wie die finnischen Juden:Jüdinnen die Staatsbürgerschaft der neuen selbstständigen Republik. Rom:nja waren in ganz Finnland anzutreffen. Regionale Schwerpunkte bildeten Karelien, Südfinnland und die westlichen Küstenregionen. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie sich oftmals saisonal bei lokalen Feld- und Waldarbeiten, was von ihnen zum einen Mobilität erforderte und zum anderen die Fähigkeit bedingte, Netzwerke aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Für ihre Arbeitsaufträge wechselten sie von Hof zu Hof zu den ihnen vertrauten Arbeitgebern. Unter den von Rom:nja ausgeübten Tätigkeiten konnte man praktisch das gesamte Beschäftigungsfeld einer Agrargesellschaft finden, angefangen von der Land- und Forstwirtschaft bis hin zu handwerklichen Diensten, vom Sammeln und Verkaufen von Glas und Stoffen bis zu Musikvorführungen und dem Erzählen von Geschichten. Die Kultur der karelischen Rom:nja wies indes einige russische Einflüsse auf, wobei sich die Männer unter anderem als Kesselflicker und Blechschmiede verdingten.
Die Kernkompetenz der finnischen Rom:nja war aber der Pferdehandel. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Pferde in Finnland wertvolle und begehrte Handelsgüter dar. Traktoren und andere landwirtschaftliche Maschinen waren sehr kostspielig und bis dato auf dem finnischen Feld eher selten anzutreffen. Aus diesem Grund wuchs der Pferdebestand in Finnland noch bis in die 1950er-Jahre an. Gleichzeitig waren der Pferdebesitz und das Wissen im Umgang mit Pferden für männliche Roma eine Ehrensache und ein Zeichen der Unabhängigkeit.1Pulma, „Efterkrigstidens finländska rompolitik och dess nordiska dimension”, 208–209.
Eine spürbare Einschränkung erfuhr die Bewegungsfreiheit der Rom:nja durch das finnische „Vagabundengesetz“ [‚Irtolaislaki‘], das am 17. Januar 1936 durch das finnische Parlament erlassen wurde und zum 1. Januar 1937 in Kraft trat. Es bezweckte die Kontrolle und Regulierung arbeitsfähiger Personen, die ohne ausreichenden Lebensunterhalt umherzogen oder ihr Einkommen auf eine Weise erzielten, die aus der Perspektive der finnischen Gesetzgeber eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten. Nach Einschätzung der 1906 gegründeten „Mission für Roma“ [Romano Missio], der ältesten öffentlichen Organisation ihrer Art in Finnland, erschwerte das neue Gesetz auch das Alltagsleben finnischer Rom:nja zunehmend.2Gasche, „State regulation of the Roma in Finland”, 17–19; Viita, Mustalaisväestön hyväksi, 122.
Evakuierung aus Karelien
Der Überfall der Sowjetunion auf Finnland am 30. November 1939 markierte den Beginn des finnisch-sowjetischen „Winterkrieges“, der mit dem Frieden von Moskau am 12. März 1940 endete. Zwar konnte Finnland seine staatliche Unabhängigkeit bewahren, musste aber territoriale Zugeständnisse machen: Im Norden verlor es die Fischer-Halbinsel [Kalajastansaarento] an die Sowjetunion. Auch der östliche Teil der Gemeinde Salla wurde sowjetisch. Besonders schwer wog die Abtretung großer Teile Kareliens an den östlichen Nachbarn. Unter jenen 450 000 Finnen, die aus jenen Gebieten Kareliens in andere Orte Finnlands evakuiert wurden, befanden sich nach Schätzungen auch etwa 1 500 finnische Rom:nja.
Dieses traumatische Ereignis hat sich tief in die Erinnerung der betroffenen Rom:nja, die mehrheitlich aus der Region Vyborg [finnisch: Viipuri; schwedisch: Viborg] oder der Stadt selbst stammten, eingeschrieben. Die Evakuierung ging mit dem Verlust sozialer und ökonomischer Netzwerke einher, welche karelische Rom:nja mit der Mehrheitsbevölkerung unterhalten hatten.3Pulma, „,Mustalaisia varten lienee perustettava keskitysleiri”, 165, 172; Teräs, „Romanit evakossa”, 48–52.
Im sogenannten „Fortsetzungskrieg“ [jatkosoda], der erneute militärische Auseinandersetzungen Finnlands mit der Sowjetunion vom 25. Juni 1941 bis 19. September 1944 umfasste und auf finnischer Seite in enger Kooperation mit dem nationalsozialistischen Angriffskrieg auf die Sowjetunion erfolgte, konnten die finnischen Streitkräfte besetztes Territorium in Karelien zurückerobern. Einzig den evakuierten Rom:nja wurde indes eine Rückkehr in die alte Heimat untersagt. Gleichzeitig erwies es sich für die finnischen Behörden als äußerst schwierig, den nach Südfinnland und in die ostfinnischen Distrikte Savo und Nordkarelien [Pohjois-Karelia] umgesiedelten Rom:nja Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Sogar jene karelischen Roma, die nach ihrer Evakuierung Arbeit fanden, wurden mit ihren Angehörigen oft in Scheunen und Saunagebäuden untergebracht oder mussten gar unter freiem Himmel schlafen.
Auch nach dem Ende des Krieges im September 1944 blieb die Wohnsituation der evakuierten karelischen Rom:nja kritisch. Darüber hinaus erhielten sie im Gegensatz zu anderen Umgesiedelten an ihren neuen Wohnorten keine Entschädigung für den Verlust ihres Eigentums. Zudem war die Sicherstellung des Lebensunterhalts eine große Herausforderung, weil die wichtigste Einnahmequelle, der Pferdehandel, nicht mehr möglich war: Die Pferde der karelischen Rom:nja waren im Frühjahr 1940 entweder auf der anderen Seite der finnisch-sowjetischen Demarkationslinie zurückgeblieben, mussten notgedrungen zum Erwerb von Lebensmitteln verkauft werden oder wurden von der finnischen Armee für den Kriegsdienst beschlagnahmt. Manchen karelischen Rom:nja blieb nichts anderes übrig, als Betteln zu gehen, was jedoch, zumal während der Einschränkungen im Krieg, kaum zum Leben reichte.4Pulma, „Efterkrigstidens finländska rompolitik och dess nordiska dimension”, 208–209; ders., „,Mustalaisia varten lienee perustettava keskitysleiri”, 165, 172.
Arbeitspflicht und Arbeitslager
Im Sommer und Herbst 1942 forderten nicht nur verschiedene finnische Behörden, sondern auch einfache finnische Zivilist:innen wiederholt, Maßnahmen gegen „umherziehende“ [kiertävä] Rom:nja zu ergreifen und diese in dauerhafte Arbeitsverhältnisse zu bringen. In die Diskussion schaltete sich auch der spätere Präsident Finnlands Urho Kekkonen (1900–1986) ein. Dieser fungierte von 1940 bis 1943 als Direktor einer Organisation, welche die Evakuierten aus Karelien zentral betreuen sollte (Siirtoväen Huollon Keskus). Kekkonen veröffentlichte seinen Diskussionsbeitrag im Herbst 1942 unter dem Pseudonym „Pekka Peitsi“ in der finnischen Wochenzeitschrift Kuvalehti. Der Artikel erschien unter dem Titel „Zur Arbeit, zur Arbeit, sagte Lapatossu“ [Työhön, työhön, sanoi Lapatossu], womit auf eine fiktive finnische Filmfigur aus den 1930er- und 1940er-Jahren angespielt wurde, die für ihre Faulheit bekannt war. Als „Pekka Peitsi“ schlug Kekkonen die Einrichtung von Arbeitslagern vor und sah darin einen ersten Schritt zur Ansiedlung derjenigen Rom:nja, die bislang keine reguläre Arbeit und keinen dauerhaften Wohnsitz gefunden hatten.5Blomberg, „Mustalaisista“, 647, 652; Peitsi [Kekkonen], „Työhön, työhön, sanoi Lapatossu”; Gasche und Holler, „Selective Memories”, 97–99.
In Finnland war bereits am 16. Juni 1939 das „Gesetz über die Arbeitspflicht in Kriegszeiten“ [Työvelvollisuuslaki] erlassen worden. Am 13. Oktober 1939 wurde die allgemeine Arbeitspflicht für alle 16- bis 60-Jährigen verkündet. Das Gesetz erfuhr im Mai 1942 noch einmal eine Modifizierung und konnte auch auf Nichtvolljährige (15- bis 17-Jährige) und bis zu 69-Jährige angewendet werden. In den folgenden Monaten wurden in Finnland mehrere Arbeitslager eingerichtet, in die bis Kriegsende bis zu 2 500 finnische Staatsbürger:innen entsandt wurden.
Drei Gruppen sollten in Zukunft jedoch einer noch weiter verschärften Arbeitspflicht unterliegen: Alkoholiker:innen, Prostituierte und Rom:nja. Am 29. Oktober 1943 verabschiedete die finnische Regierung ein Gesetz, das die Einweisung dieser drei Gruppen in „Sonderarbeitslager“ [Erikoisleirit] für den Zeitraum von bis zu zwölf Monaten erlaubte. Im Gesetzentwurf der Regierung wurde die ausdrückliche Nennung einer ethnischen Gruppe mit dem Hinweis begründet, dass „Zigeuner“ [mustalaiset; schwedisch: zigenare] „aufgrund ihrer körperlichen Verfassung, ihrer Lebensweise und ihres Verhaltens nicht mit anderen Arbeitspflichtigen zusammengebracht werden könnten“. Das betreffende Gesetz trat am 1. Dezember 1943 in Kraft.6Pulma, „,Mustalaisia varten lienee perustettava keskitysleiri”, 168–169.
Auch wenn in der Folge bis Kriegsende tatsächlich kleinere Gruppen von finnischen Rom:nja in geschlossene Arbeitslager gebracht wurden, scheiterte letztlich das Ziel des Ministeriums für Verkehr und Arbeit [Kulkulaitosten ja yleisten töiden ministeriö], sie umfassend und systematisch für Arbeitseinsätze heranzuziehen. Ein erster Testlauf war bereits vor der Verabschiedung des einschlägigen Gesetzes unternommen worden, als im Februar 1943 das Arbeitslager in Lappajärvi, östlich der Küstenstadt Vaasa, ausschließlich für Roma eröffnet wurde. Das Lager war für 39 Roma im Alter zwischen 14 und 65 Jahren vorgesehen. Unter der Mithilfe finnischer Polizeikräfte wurden 24 Roma in das Lager gebracht, von denen sieben umgehend die Flucht gelang. Die Ergebnisse der Arbeitseinsätze, vornehmlich in der Waldarbeit und weiteren Verarbeitung für die Papierindustrie, wurden von der Lagerleitung als unbefriedigend angesehen. Um Krankmeldungen im Lager entgegenzuwirken, verfügte die Leitung, dass nur diejenigen Insassen Mahlzeiten erhalten sollten, deren Arbeitsleistungen den Verpflegungskosten entsprachen. Zudem wirkte sich der enge Zusammenhalt der Familien störend auf den Lageralltag aus. Die Familienmitglieder waren den männlichen Insassen nach Lappajärvi gefolgt und lagerten außerhalb des Zauns, womit sie deutlich ihren Protest gegen die Verschleppung ihrer Angehörigen zum Ausdruck brachten. Die Familien wurden vom Aufsichtspersonal nicht geduldet und vertrieben. Nach lediglich fünfmonatiger Betriebszeit wurde das Arbeitslager Lappajärvi im Juni 1943 wieder geschlossen und die letzten zwölf Lagerinsassen wurden entlassen.7Ihari, Jatkosodan aikaisten erikoistyöleirien organisointi, 24–27; Pulma, „Sodan puristuksessa”, 159–160.
Ein Lager für Romnja in Padasjoki, nordöstlich der Stadt Hämeenlinna gelegen, hatte ebenfalls nur eine kurze Lebensdauer. Das Arbeitslager wurde im Mai 1943 in Betrieb genommen und musste wegen zu geringer Belegung (die genauen Zahlen sind nicht überliefert) im September 1943 frühzeitig geschlossen werden. Das Ministerium für Verkehr und Arbeit hielt die örtlichen Behörden dazu an, die noch verbliebenen Romnja in andere Arbeitsverhältnisse zu bringen.8Niiranen, Työleirien Saaristo, 553.
Forderungen aus der Bevölkerung, Maßnahmen gegen Rom:nja zu ergreifen, wenn sie nicht in festen Arbeitsverhältnissen standen oder an der Front dienten, verstummten jedoch nicht, was den Druck auf die politischen Entscheidungsträger hoch hielt. Trotz der im Jahr 1943 bereits gemachten Erfahrungen, dass die behördlichen Ressourcen in Kriegszeiten nicht ausreichten, um auf organisatorischer Ebene zu gewährleisten, dass Rom:nja in ausreichender Zahl in den für sie eingerichteten Arbeitslagern erschienen und dort auch blieben, hielten die verantwortlichen Stellen weiter an dem Plan fest, separate Arbeitslager für Rom:nja zu errichten. Zusätzlich sah das Ministerium für Verkehr und Arbeit vor, dass die Lager nunmehr eine größere räumliche Distanz zu Siedlungen haben sollten.
Nach Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung im Dezember 1943 wollten die finnischen Behörden in Kihniö, nördlich der Stadt Tampere, und angeschlossen an das dortige „Sonderarbeitslager 6“, ein Lager für Roma errichten. Auch dieses Projekt verlief erfolglos. Der Plan scheiterte schlicht daran, dem Lager das geforderte Mindestkontingent von 15 Insassen zuzuführen. Zudem hatte sich die ohnehin geringe Anzahl der bereits in Kihnö befindlichen Roma durch Fluchten aus dem Lager zusätzlich verringert.9Ihari, Jatkosodan aikaisten erikoistyöleirien organisointi, 96. Zu denjenigen, die aus dem Lager flohen, gehörte Robert Edvard Lindberg (1907–1982), der Vater von Väinö Valdemar Lindberg (1938–2022).
Für genau 57 Tage bestand hingegen ein Sonderlager für Romnja in Vieremä, nördlich von Iisalmi. Das Lager wurde Mitte Juni 1944 in Betrieb genommen und sollte noch im gleichen Monat 30 Insassinnen beherbergen. Ausgelegt war das Lager sogar für 60 Arbeiterinnen. Als Unterkunft dienten Zelte, nur die weibliche Lagerleitung war in einem Holzhaus untergebracht. Auch im Fall des Sonderlagers Vieremä bestand das Hauptproblem darin, dass es fortwährend unterbelegt war. Anfang August, als sich noch acht Romnja im Lager befanden, wurde es aufgelöst. Soweit die verbliebenen Insassinnen weiterhin als arbeitstauglich eingestuft wurden, verlegte man sie in das Arbeitslager Pajujärvi, südlich von Iisalmi. Nach dem Waffenstillstand von Moskau zwischen Finnland und der Sowjetunion am 19. September 1944 kam es zur schrittweisen Außerkraftsetzung der kriegsbedingten Sondergesetzgebungen, was auch ein Ende der finnischen Arbeitslager zur Folge hatte.10Niiranen, Työleirien Saaristo, 523, 533–557.
Roma in der finnischen Armee
Anfang der 2000er-Jahre ermittelte das Gedenkkomitee der Roma-Kriegsveteranen, dass mindestens 300 Roma während des Krieges im finnischen Militär gedient hatten. Exakte Zahlen gibt es nicht, da die finnische Armee die ethnische Herkunft ihrer Soldaten nicht erfasste. Finnische Roma dienten nicht nur in Nachschubeinheiten, sondern kämpften auch an vorderster Front. Etwa 60 finnische Roma starben als Soldaten im Kriegseinsatz.
Die Kriegsteilnahme finnischer Roma nimmt im kollektiven Gedächtnis der Communitys einen wichtigen Platz ein. Das Narrativ der Kriegsteilnahme findet sich sogar in der Kinderliteratur von und für Rom:nja wieder. Auch der noch heute von Uniformität geprägte, zumeist dunkle Kleidungsstil finnischer Roma erinnert an den Kriegseinsatz in der finnischen Armee. Einer unter finnischen Roma bis heute verbreiteten Legende zufolge soll eine Deportation finnischer Rom:nja in deutsche Konzentrationslager geplant gewesen sein, doch habe dies Marschall Carl Gustaf Emil Mannerheim (1867–1951), damals Oberbefehlshaber der finnischen Armee, verhindert. Ein Beleg für einen solchen Deportationsplan gibt es jedoch nicht. Die Legende basiert vermutlich auf Mannerheims Haltung, die jüdischen Bürger:innen Finnlands bei einer möglichen Anfrage von Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) – die im Sommer 1942 auch tatsächlich erfolgte – nicht an das NS-Regime auszuliefern.11Pulma, „Sodan puristuksessa”, 162; Torvinen, Kadimah,140–143 ; Gasche und Holler, „Selective Memories”, 100–101.
Finnische Beteiligung am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg
Die jüdische Bevölkerung Finnlands (ca. 2 000 Personen) wurde während des Zweiten Weltkrieges nicht verfolgt. Finnische Juden kämpften wie Roma und Tataren — eine weitere Minderheit in Finnland — als Armeeangehörige gegen die Rote Armee. Mit dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ kam es ab dem Sommer 1941 zu einer engeren Zusammenarbeit der deutschen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) mit der finnischen Staatspolizei [Valtiollinen poliisi]. Die Kooperation erstreckte sich schwerpunktmäßig auf den Informationsaustausch über Verhöre mit sowjetischen Kriegsgefangenen, Aktivitäten feindlicher Agent:innen sowie die Kontrolle von Flüchtlingen und Oppositionellen in Finnland.
Auf Initiative des finnischen Innenministeriums, insbesondere unter dem Minister Toivo Horelli (1888–1975) und dem Chef der Staatspolizei Arno Anthoni (1900–1961), kam es am 6. November 1942 zur Überstellung von acht jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich und Lettland, darunter zwei Minderjährigen, an die Gestapo (Geheime Staatspolizei). Sie wurden über Tallinn und Berlin in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überführt, wo fast alle in den Jahren 1943 und 1944 starben. Einziger Überlebender war Dr. Georg Kollmann (1912–1992), der später nach Israel auswanderte. Die Auslieferung der jüdischen Flüchtlinge führte zu Protesten innerhalb der finnischen Regierung, u.a. durch Mannerheim, woraufhin weitere Überstellungen gestoppt wurden.
Die Übergabe sowjetischer Kriegsgefangener an Deutschland war indes von diesem Stopp nicht betroffen. Insgesamt wurden zwischen 2 000 und 3 000 sowjetische Soldaten in einem asymmetrischen Austausch gegen sich in deutschen Kriegsgefangenenlagern befindliche Karelier, Ingermanland-Finnen (auch „Ingermanländer“ oder „Ingrier“ genannt), Wolgafinnen und Esten, die den Finnen als „stammesverwandt“ galten, an deutsche Sicherheitskräfte überstellt. Studien um die Jahrtausendwende wiesen darauf hin, dass unter den übergebenen sowjetischen Soldaten aus finnischen Lagern auch jüdische Kriegsgefangene waren. In mehreren Austauschaktionen sollen von 1941 bis 1943 zwischen 47 und 74 Personen jüdischer Herkunft an die deutsche Sicherheitspolizei übergegeben worden sein, wobei davon auszugehen ist, dass sie nicht überlebten.12Sana, Luovutetut; Ylikangas, Heikki Ylikankaan selvitys; Lindstedt, „Juutalaisten sotavankien luovutukset“; Silvennoinen, Salaiset aseveljet; Westerlund, Prisoners of War. Theoretisch könnten sich unter den überstellten Kriegsgefangenen auch Roma aus der ehemaligen Sowjetunion befunden haben.
Neuere finnische Studien ab 2017 thematisieren die Teilnahme von finnischen Freiwilligen in der SS-Division „Wiking“ und deren Beteiligung an Erschießungen von Juden:Jüdinnen und Kommissaren und weiteren Gräueltaten auf dem Gebiet der deutsch besetzten Sowjetunion.13Swanström, „Fasismi ja uskonto suomalaisten SS-pastorien ajattelussa ja toiminnassa“; Swanström, Hakaristin ritarit; Westerlund,The Finnish SS volunteers. Die Diskussion über das Ausmaß der begangenen Kriegsverbrechen ist noch nicht abgeschlossen. Keine dokumentarischen Beweise gibt es bislang dafür, dass „Wiking“-Einheiten auf ihrem Weg von Galizien in den Nordkaukasus auch sowjetische Rom:nja ermordet haben, jedoch kann dies grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden.
Ein weiteres Gebiet, in dem finnischsprachige Freiwillige in größerem Umfang in deutschen Uniformen dienten, war der Nordwesten Russlands, der im Spätsommer 1941 von der Heeresgruppe Nord besetzt wurde. Rund 1 000 Ingermanland-Finnen dienten in der 18. Armee, ab Februar 1942 in der Finnischen Sicherungsgruppe 187, die später unter dem Namen Ost-Bataillon 664 in der Partisanenbekämpfung eingesetzt wurde. Ende 1943 wurde das Bataillon nach Finnland verlegt und als reguläre Einheit („Erillinen pataljoona 6“) in die finnische Armee eingegliedert. Dadurch wurden Ingermanland-Finnen auch zu Waffenbrüdern finnischer Roma. Die Frage nach einer Beteiligung der Ingermanland-Finnen an möglichen Kriegsverbrechen ist eng mit der brutalen deutschen Besatzungspolitik verknüpft. „Sicherung“ und „Partisanenbekämpfung“ bedeuteten häufig die willkürliche Ermordung von Zivilist:innen – insbesondere von Juden:Jüdinnen und Rom:nja –, die auch von Wehrmachteinheiten begangen wurden.
Im Operationsgebiet der Heeresgruppe Nord wurden nach aktuellem Forschungsstand zwischen 1 300 und 1 500 Rom:nja ermordet. Einzelne Fälle deuten auf die direkte oder indirekte Beteiligung von Angehörigen der Sicherungsgruppe 187 hin: So schilderte ein ehemaliges Mitglied dieser Einheit die öffentliche Erhängung einer romani Familie nahe Luga – allerdings ohne genaue Datierung und mit distanzierender Darstellung seiner eigenen Rolle. Ein von der sowjetischen Außerordentlichen Staatlichen Kommission dokumentierter Massenmord liegt für Februar 1942 im Dorf Filippovščina vor, wo eine Wehrmachteinheit 26 Rom:nja – darunter zehn Kinder –erschoss. Zeug:innen nannten als Täter „Deutsche, Finnen und Esten“, die in diesem Zeitraum den gesamten Rajon Gdov nach Partisan:innen durchkämmten, doch konnte die konkrete Einheit nicht identifiziert werden. Denkbar wäre es, dass Angehörige der Sicherungsgruppe 187 beteiligt waren. Möglich ist jedoch auch, dass es sich um eine estnische Sicherungsgruppe unter deutschem Kommando handelte, in deren Reihen sich einige Ingermanland-Finnen befanden.14Mutanen, Vaiennetut sotilaat, 45, 65–67, 89, 97, 100, 110–14, 126; Gasche und Holler, „Selective Memories”, 103–105; Holler, „The Nazi Persecution of Roma in Northwestern Russia“, 159.
Erinnerungskultur
Sowohl für die finnischen Rom:nja als auch für die finnische Politik ist es bis heute sehr wichtig, in der Öffentlichkeit die Idee einer Waffenbrüderschaft zwischen der Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln. Am 17. Oktober 2003 wurde zu Ehren der finnischen Roma, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren, auf dem Friedhof Hietaniemi in Helsinki, unweit des Grabes von Marschall Mannerheim, ein Denkmal errichtet. Es wurde vom finnischen Bildhauer Heikki Häiväoja (1929–2019) geschaffen und stellt eine Wagenachse mit beschädigtem Rad dar, die die Kultur der finnischen Rom:nja und die Verbundenheit mit ihrem Heimatland symbolisiert. Die Aufrechterhaltung dieses positiven Kriegsnarratives – sowohl seitens der Minderheit als auch von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft – erforderte über viele Jahrzehnte das Verschweigen von Unrechtserfahrungen. Dies änderte sich erst ab den 2000er-Jahren, als Aktivisten wie Väinö Lindberg begannen, die Einweisungen finnischer Rom:nja in Arbeitslager öffentlich zu thematisieren, was zu Diskussionen in den Medien und der Forschung führte.15Gasche und Holler, „Selective Memories”, 100–101.




