Anna Petermann

Logo
Suche
Anna Petermann
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 21. Mai 2025

Die Geschichte von Anna Petermann, geboren am 11. März 1910 in Osterwitz, Kreis Leobschütz in Oberschlesien, Deutsches Reich (heute Niekazanice im Kreis Głubczycki in Polen), gewährt Einblicke in die gravierenden Folgen der sogenannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ für Sinti:ze und Rom:nja sowie die jahrzehntelang ausgebliebene Anerkennung der Betroffenen als NS-Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland.

Von der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ waren zunächst die männlichen, in der Folge jedoch sämtliche Angehörigen ihrer Familie betroffen.

Verhaftungen und KZ-Haft

Die Männer ihrer Familie (ihr Vater, ihre drei Brüder und ihr Ehemann) wurden am 14. Juni 1938 von der Kriminalpolizei in Cloppenburg verhaftet und in verschiedene Konzentrationslager verschleppt. Aus den kriminalpolizeilichen Akten, die im Niedersächsischen Landesarchiv einsehbar sind, geht hervor, dass keiner der verhafteten Männer der Korbmacher- und Händler-Familie Petermann Vorstrafen hatte. Sie wurden aus rassistischen Gründen verhaftet: Ihnen wurde vorgeworfen, „nach Zigeunerart umherzuziehen – wie es in den einschlägigen Anweisungen an die kriminalpolizeilichen Verfolgungsbehörden hieß.

In den Akten finden sich außerdem eine Postkarte vom 18. Juni 1938 und ein Brief von Anna Petermann und ihrer Mutter Barbara Petermann an die Verfolgungsbehörden vom 21. Juni 1938. Darin kündigten die Frauen an, nicht ruhen zu wollen, bis ihre Angehörigen freigelassen würden oder sie zumindest ihren Aufenthaltsort erfahren hätten. Vergleichbare Fälle protestierender Sintize und Romnja sind für das Deutsche Reich mehrfach belegt. Die Kriminalpolizeileitstellen wurden angewiesen, diese Formen des Aufbegehrens zu stoppen.1Hesse et al., Vom Schlachthof nach Auschwitz, 233.

Am 27. Juli 1938 wurden Anna und Barbara Petermann in Sauensiek im Landkreis Stade verhaftet. Ob ihre Briefe und Postkarten auch ein Grund für ihre Verhaftung waren, lässt sich heute nicht mehr eindeutig nachvollziehen. Am 30. Juli 1938 stellte der Stader Stadtrat einen Antrag auf „polizeiliche Vorbeugunghaft“ für Anna und Barbara Petermann sowie zehn weitere Personen. Der Haft in Hamburg folgte die Inhaftierung im Konzentrationslager Lichtenburg und anschließend im KZ Ravensbrück.

Anna Petermanns Vater Johann Petermann (1889–1941) wurde im KZ Buchenwald ermordet, ihre Mutter Barbara Petermann (1882–1942) im KZ Ravensbrück, ihr Ehemann Hugo Petermann (1907–1942) im KZ Dachau sowie ihr Bruder Heinrich Petermann (1919–1941) im KZ Mauthausen.

Ihr Bruder Adolf Petermann (1922–unbekannt) überlebte die Konzentrationslager Sachsenhausen und Natzweiler-Struthof. Im April 1945 wurde er in Dachau befreit. Ihr Bruder Otto Petermann (1913–1979) überlebte die Lager Sachsenhausen, Mauthausen und Gusen schwer gezeichnet. Ihre beiden jüngsten Geschwister, Bertha (geb. 1923) und Arnhold Petermann (geb. 1930), und ihre beiden Kinder, Dora (geb. 1930) und Adolf Petermann (geb. 1934), wurden 1943 vermutlich gemeinsam mit weiteren Verwandten aus dem Zwangslager Holzweg von Magdeburg in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

Geringe Entschädigung

Anna Petermanns Familie wurde nahezu vollständig ermordet. Sie selbst überlebte sechs Jahre und zehn Monate Haft in Konzentrationslagern. In den 1950er-Jahren wandte sich die Überlebende im Rahmen ihres Antrags auf Entschädigung mit Unterstützung eines Anwalts an den International Tracing Service (ITS) im hessischen Arolsen und bat um Nachweise über ihr eigenes sowie das Verfolgungsschicksal ihrer Angehörigen.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die während der Verhaftungswellen des Jahres 1938 festgenommenen Menschen jahrzehntelang nicht als NS-Opfer anerkannt und vom Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen. Für Anna Petermann waren die in Arolsen verwahrten Dokumente hilfreich, um den eigenen Verfolgungsweg nachweisen zu können. Gleichzeitig übermittelte der Suchdienst jedoch den angegebenen Haftgrund Asozialität unkommentiert an die Entschädigungsbehörde – mit gravierenden Folgen für die Betroffene.

1956 wurde Anna Petermann als NS-Verfolgte anerkannt, allerdings lediglich für den Zeitraum, den sie nach dem im Dezember 1942 ergangenen Auschwitz-Erlass inhaftiert gewesen war. Im Entschädigungsprozess wurde der Zeitpunkt der Inhaftierung gegen Anna Petermann ausgelegt. So schrieb der als Gutachter herangezogene „Sachverständige für Zigeunerbeim Bayrischen Landeskriminalamt, dass eine Festnahme bereits im Juli 1938 für eine Verhaftung aufgrund „polizeilicher Beanstandung“ spräche.2Niedersächsisches Landesarchiv (NLA), Old. Best. 231-6, Nr. 56; Nds. 110W Acc. 32-99 Nr. 301239.

Der „Sachverständige“ unterzeichnete mit dem Namen Eller. Hierbei könnte es sich um Hanns Eller (1898–1972) handeln, der während der NS-Zeit als Kriminalbeamter an Deportationen von Sinti:ze und Rom:nja mitgewirkt hatte und dem seit 1950 als Leiter der Abteilung Fahndung im bayerischen Landeskriminalamt auch die „Landfahrerzentrale“ unterstand.3Vgl. Haumann, Die Akte Zilli Reichmann, 212–214; Opfermann, Stets korrekt und human, 396 f.

Als weiterer Beleg gegen eine rassistisch motivierte Verfolgung vor 1943 diente eine Aussage jenes Polizisten, der Anna Petermann 1938 festgenommen hatte und der 1955 wieder als Polizeimeister im Kreis Stade beschäftigt war. Die Entschädigungsbehörde verwies außerdem, gestützt auf das Schreiben des ITS, auf die 1938 beantragte „polizeiliche Vorbeugungshaft“ und den Haftgrund „Asozialität“. Anna Petermann erhielt als Entschädigung eine einmalige Zahlung in Höhe von 3 900 DM, die einer Haftzeit von lediglich zwei Jahren und vier Monaten entsprach.

Anna Petermann starb am 27. November 1984 in Braunschweig. Erst am 13. Februar 2020 beschloss der Deutsche Bundestag, dass auch die als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppten Menschen als Opfer der NS-Gewaltherrschaft anerkannt werden.4Vgl. „‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ sollen als NS-Opfer anerkannt werden“, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw07-de-ns-verfolgte-680750 [Zugriff: 10.12.2024].

Einzelnachweise

  • 1
    Hesse et al., Vom Schlachthof nach Auschwitz, 233.
  • 2
    Niedersächsisches Landesarchiv (NLA), Old. Best. 231-6, Nr. 56; Nds. 110W Acc. 32-99 Nr. 301239.
  • 3
    Vgl. Haumann, Die Akte Zilli Reichmann, 212–214; Opfermann, Stets korrekt und human, 396 f.
  • 4
    Vgl. „‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ sollen als NS-Opfer anerkannt werden“, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw07-de-ns-verfolgte-680750 [Zugriff: 10.12.2024].

Zitierweise

Sabine Moller / Phil Mertsching: Anna Petermann, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 21. Mai 2025.-

1938
13. – 18. Juni 1938Während der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ werden erstmals größere Gruppen von Sinti und Roma aus rassistischen Gründen verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen, Deutschland, eingeliefert. Jeder achte Erwachsene der Minderheit ist von dieser Verschleppung betroffen.
28. Juli 1938Anna und Barbara Petermann werden in Sauensiek, Kreis Stade (Deutschland), verhaftet und in das Konzentrationslager Lichtenburg verschleppt. Zuvor hatten sie gegen die im Juni 1938 erfolgte Festnahme ihrer Ehemänner, Söhne und Brüder protestiert.