Razzien in Belgien und Nordfrankreich (1943)

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Razzien in Belgien und Nordfrankreich (1943)
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Mit dem Auschwitz-Erlass ordnete Heinrich Himmler am 16. Dezember 1942 die Deportation aller Zigeuner aus dem Gebiet des Deutschen Reiches an. Am 29. März 1943 wurde der Befehl auch für das besetzte Belgien und die Departements Frankreichs erteilt, die unter dem Befehl des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich standen. Die Verhaftungen begannen Mitte Oktober des Jahres 1943 und sollten dazu führen, dass 352 Sinti:ze und Rom:nja in das ‚SS-SammellagerMechelen eingewiesen und von dort in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.

Einigen Personen gelang es, den Razzien zu entgehen; deren Geschichte soll im Folgenden näher betrachtet werden. Ob ihnen die Flucht vor den Verhaftungen und somit der Deportation gelang, hing von verschiedenen Faktoren ab, darunter persönliche oder familiäre Strategien. Diese Strategien beinhalteten die Änderung ihrer Gewohnheiten, den Wechsel der Region und manchmal das Untertauchen. Der Erfolg war jedoch auch abhängig von Sprachkenntnissen sowie ökonomischen und sozialen Voraussetzungen. Die recherchierten Beispiele belegen eine Vielzahl von Fluchtversuchen und Überlebensstrategien.

Festnahmen und Fluchten

Am 25. November 1943 riegelten Feldgendarme ein Viertel der Stadt Roubaix in der Nähe von Lille, ab um die ‚Zigeuner‘ zu verhaften. In der Rue Edouard Anseele befand sich der knapp zwölfjährige Maurice Theer (1932–2012) auf dem Treppenabsatz in der Toilette, als er das Klopfen der Gendarmen an der Tür hörte. Es rührte sich nicht und entging damit der Verhaftung, während seine Mutter, sein Bruder und seine Schwestern in das Hauptquartier der Feldgendarmerie gebracht wurden. In derselben Straße versteckte sich die Schwester von Gervaise Schmitt (1931–unbekannt) mit ihrem Mann auf einem Dachboden. Victor Hoffmann (unbekannt–unbekannt), dem es ebenfalls gelang, über die Dächer zu fliehen, musste mit ansehen, wie seine gesamte Familie, seine Eltern und seine Geschwister, festgenommen wurden. Auch Jacques (1907–unbekannt) und Alexis Schuhmacker (1930–unbekannt) flohen und arbeiteten bis zum Ende des Krieges heimlich bei Bauern. Es ist jedoch nicht eindeutig geklärt, ob sie bei der Razzia oder während ihrer Verlegung von Roubaix in die Kaserne Dossin geflohen sind.

Einige Personen waren an dem Tag der Razzia nicht in ihren Wohnungen anwesend. Jacques-Pierre Schmitts Tochter Léa Alexandrine (genannt Tcha-tchaï) (unbekannt–unbekannt) befand sich in Souchez, Departement Pas-de-Calais, bei ihrer Tante, während ihre Familie in Roubaix verhaftet wurde. Julie Alderboom (genannt Coco) (1913–2008) verkaufte Körbe in Frévent, ebenfalls Pas-de-Calais, während neun Mitglieder ihrer Familie in der gleichen Gemeinde gefangen genommen wurden.

Die Mehrsteins, die eine Zeit lang in Pont-de-la-Deûle (Nord) wohnten, wurden vor der bevorstehenden Razzia gewarnt und trafen Vorkehrungen, um sich zu verstecken. Dies gelang jedoch nur für eine kurze Zeit. Sie wurden einen Monat später, am 25. November 1943, in Roubaix festgenommen.

In Tournai informierte der Polizeibericht vom 23. November 1943, dass es einigen Nomades gelungen sei, zu fliehen, darunter Clara Modis (1923–1987), die in Tournai bei einer Familie Zuflucht fand, die von der Razzia verschont geblieben war.

Jean Galut (genannt Yayal) (1928–2014), der in Brüssel von der Gendarmerie festgenommen und in das Internierungslager Rekem gebracht wurde, erfuhr, dass seine Frau Jeanne Modis (genannt Paprika) (1925–1997) und seine gesamte Familie in Mechelen interniert worden war. Er schrieb an die Leitung des Sammellagers in Mechelen und äußerte den Wunsch, sich seiner Familie anschließen zu dürfen. Seine Post wurde vom Direktor des Lagers in Rekem abgefangen und Jean Galut blieb bis zur Befreiung Belgiens in Rekem interniert.

Flucht nach Frankreich

Angesichts der zunehmenden Bedrohung ergriffen zahlreiche Betroffene die Flucht. Nach wiederholten Hausdurchsuchungen in seinem Viertel in Roubaix beschloss der Onkel von Gervaise Schmitt, kurz vor der Razzia im November 1943 in die unbesetzte Zone in Frankreich nach Lyon zu gehen. Doch der am 16. Februar 1943 in Frankreich eingeführte Service du travail obligatoire (STO) stellte die Gefahr dar, einberufen zu werden und im Deutschen Reich zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden. Dies veranlasste zahlreiche zwischen 1920 und 1922 geborene Männer dazu, unterzutauchen. François Alderboom (1899–1963) wusste, dass er gesucht wurde: Er galt als fahnenflüchtig und ‚arbeitsscheu‘ und wurde als Asozialereingestuft. Deshalb flüchtete er in die Bretagne. Bernard Lagrené (1914–unbekannt), der Zwillingsbruder von Michel Lagrené (1914–1944), der sich in derselben Lage befand, versteckte sich in Savoyen.

Maurice Theer (1932–2012) und Léa Alexandrine Schmitt (unbekannt–unbekannt), die noch Kinder waren, und die 18-jährige Julie Alderboom (1913–2008) konnten wahrscheinlich mit der Hilfe ihrer Familie den Verhaftungen entgehen. Victor Hoffman (unbekannt–unbekannt), der sich während der gesamten Besatzungszeit in Paris und Umgebung versteckte, wechselte häufig die Orte, um nicht entdeckt und denunziert zu werden. Dabei wurde er von Geistlichen unterstützt. Hilfe aus der Mehrheitsgesellschaft gab es jedoch nur selten. Gleichgültigkeit war die Regel.

Wie viele Menschen den Razzien entkamen, die im besetzten Belgien und Nordfrankreich durchgeführt wurden, lässt sich jedoch nicht beziffern oder auch nur schätzen, da es nur wenige Zeugenaussagen gibt und in den Archiven nur selten Dokumente dazu überliefert sind.

Zitierweise

Monique Heddebaut: Razzien in Belgien und Nordfrankreich (1943), in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1942
16. Dezember 1942„Auschwitz-Erlass”: Heinrich Himmler, Chef der Schutzstaffel („Reichsführer SS”), ordnet die Deportation von Sinti:ze und Rom:nja aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
1943
29. März 1943Das Reichssicherheitshauptamt ordnet die Deportation von Rom:nja und Sinti:ze aus deutsch besetzten Gebieten und Ländern (Belgien, Bezirk Bialystok, Elsass, Lothringen, Luxemburg, Niederlande und Nordfrankreich) in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
Oktober – Dezember 1943Im Bereich des deutschen Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich werden Razzien durchgeführt, die ergriffenen Sinti:ze und Rom:nja anschließend in das ‚SS-Sammellager‘ Mechelen überführt, um sie von dort deportieren zu können.
23. November 1943In Tournai, deutsch besetztes Belgien, werden 19 Mitglieder der Familie Karoli von der Feldgendarmerie verhaftet.
9. Dezember 1943Die deutsche Kriminalpolizei im Bereich des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich erstellt eine Liste mit den Namen von 351 Sinti:ze und Rom:nja, die für eine Deportation vorgesehen sind. Eine Frau, Jeanne Royenne Vados, wird später mit deportiert, ohne auf dieser Liste registriert gewesen zu sein.
1944
15. Januar 1944Aus dem ‚SS-Sammellager‘ Mechelen, deutsch besetztes Belgien, werden 352 Männer, Frauen und Kinder mit dem ‚Transport Z‘ bezeichneten Zug in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie zwei Tage später eintreffen. Die einjährige Georgette Hédouin stirbt während des Transportes.