Martin Sandberger

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Martin Sandberger
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 31. März 2025

Dr. Martin Sandberger, geboren am 1. Juli 1911 in Berlin, Deutschland, überwachte in seiner Funktion als Leiter der deutschen Sicherheitspolizei (Sipo) in Estland in den Jahren 1941 bis 1943 den Massenmord an den Juden:Jüdinnen und Rom:nja Estlands.

Werdegang

Zwischen 1929 und 1933 studierte Sandberger Rechtswissenschaften an den Universitäten München, Köln, Freiburg und Tübingen und legte kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sein Staatsexamen ab. 1931 wurde er Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, einer Gliederung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), und der Sturmabteilung (SA). Im Mai 1935 trat er in die SS (Schutzstaffel) ein und begann bald darauf in der Abteilung II/2 des Sicherheitsdienstes (SD) zu arbeiten. 1938 hatte er den Rang eines SS-Sturmbannführers inne und erreichte 1945 den Rang eines SS-Standartenführers. Im Laufe seiner Karriere erhielt er fünf Orden. Sandberger war verheiratet und hatte drei Kinder, von denen das jüngste im Herbst 1941 geboren wurde.

Im Oktober 1939 wurde Sandberger zum Leiter der von Heinrich Himmler (1900–1945) neu geschaffenen Einwandererzentralstelle ernannt, deren Aufgabe die Umsiedlung der aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern ankommenden Volksdeutschen war. Um die im Reichsgau Wartheland eintreffenden Baltendeutschen unterzubringen, organisierte er die Deportation von 7 000 Pol:innen, die vorübergehend in ein Konzentrationslager gebracht wurden. Im Februar 1940 wurde er befördert und wechselte in die Personalabteilung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin. Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen erhielt Sandberger im April 1941 kurzzeitig einen Auftrag zur Deportation der slowenischen Intellektuellen aus der Region Ljubljana. Etwa zu dieser Zeit, in Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion, ernannte der Leiter des RSHA, Reinhard Heydrich (1904–1942), Sandberger zum Leiter des Sonderkommandos 1a der Einsatzgruppe A in Estland.

Ermordung der jüdischen Bevölkerung

Unter seiner Führung führte das Sonderkommando 1a in der letzten Juniwoche und in der ersten Juliwoche 1941 Massenerschießungen von Juden:Jüdinnen in Litauen und Lettland durch. Die Einheit erreichte Tallinn am 28. August 1941 und errichtete innerhalb des nächsten Monats ständige Büros der deutschen Sicherheitspolizei in den großen estnischen Städten und in dem Teil Russlands zwischen Estland und Leningrad. Mit nur 105 Personen konnte die deutsche Sipo in Estland die ihr übertragenen Aufgaben – einschließlich der Endlösung der Juden- und Zigeunerfrage‘ – in einem Land mit über einer Million Einwohner:innen nicht wirksam ausüben. Daher schuf Sandberger eine Parallelstruktur, die estnische Sicherheitspolizei, die zwanzigmal so viele Mitarbeiter:innen beschäftigte wie ihr deutsches Pendant. Die estnische Hilfspolizei Omakaitse, die in ihrer Hochzeit 43 000 Personen beschäftigte, unterstützte die estnische Sicherheitspolizei bei ihren Routineeinsätzen.

Am 10. September 1941 ordnete Sandberger die Verhaftung aller estnischen Juden:Jüdinnen an. Der Befehl verpflichtete die Polizeipräfekturen, innerhalb von zehn Tagen Listen über die Juden:Jüdinnen zu erstellen, wobei zwischen männlichen und weiblichen Personen zu unterscheiden war. Während des gesamten Septembers wurden Juden:Jüdinnen routinemäßig in das Zentralgefängnis von Tallinn eingeliefert, und zwar auf der Grundlage eines allgemeinen Befehls, der eine unbefristete Haft in einem Konzentrationslager vorsah. Bis zum 6. Oktober meldete die estnische Sicherheitspolizei 440 Hinrichtungen, d. h. etwas weniger als die Hälfte der Juden:Jüdinnen, die aufgrund der deutschen Besatzung nicht aus Estland geflohen waren. Bereits am 12. Oktober wurden die Provinzstädte für ‚judenrein‘ erklärt. Jüdische Frauen und Kinder – etwa 500 bis 550 Personen – lebten noch bis Herbstmitte 1941. In den zweit- und drittgrößten estnischen Städten, Tartu und Pärnu, wurden jüdische Frauen und Kinder vor Ort inhaftiert, während diejenigen aus Tallinn und Umgebung in das nahe gelegene Gefängnis in Harku gebracht wurden. Laut einem Bericht der Einsatzgruppen über die bis zum 1. Februar 1942 durchgeführten Exekutionen wurden in Estland 963 Menschen ermordet. Diese Zahl stimmt mit der Anzahl der ermordeten Juden:Jüdinnen in den fünf größten Polizeipräfekturen und kleineren estnischen Städten überein: Tallinn – 666 Personen; Pärnu – 137; Tartu – mindestens 50; Narva – 32; Rakvere – 22; alle Übrigen – 56. Bis Sommer 1942 identifizierte und tötete die estnische Sicherheitspolizei die letzten jüdischen Frauen – in der Regel Personen aus ‚Mischehen‘, d. h. Frauen mit einem nicht jüdischen Ehemann.

Ermordung der Rom:nja

Sandberger und die deutsche Sipo spielten auch bei dem Massenmord an den Rom:nja in Estland eine zentrale Rolle, auch wenn an der Entscheidungsfindung mehrere deutsche Stellen beteiligt waren. Am 27. Oktober 1942 meldete die estnische Sicherheitspolizei die Ermordung von 243 estnischen Rom:nja an ihr deutsches Pendant. Auf der Grundlage von Himmlers sogenanntem Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 ordnete Sandberger am 22. Januar 1943 die Deportation aller estnischen Rom:nja, unabhängig von ihrem sozialen Status, an. Nach einem Aufenthalt im Zentralgefängnis Tallinn wurden 110 bzw. 337 Rom:nja am 10. Februar bzw. 17. Februar 1943 ermordet. Bis Anfang März 1943 fanden mindestens zwei weitere, kleinere Massaker statt. Letztendlich hatten von den insgesamt 906–915 Rom:nja nur 75–125 eine Chance zu überleben.

Letzte Kriegsjahre

Im September 1943 ging Sandberger nach Verona, um den Nachrichtendienst im deutsch besetzten Italien mit aufzubauen. Drei Monate später kehrte er in die Zentrale des RSHA in Berlin zurück und übernahm die Leitung der Abteilung VI-A. Diese Position hatte er bis Kriegsende inne. Am 25. Mai 1945 kapitulierte Sandberger vor den amerikanischen Streitkräften in Kitzbühel in Österreich.

Bestrafung und Begnadigung

Sandberger war einer der 23 Angeklagten im Einsatzgruppen-Prozess 1947/48. Zusammen mit 13 anderen wurde er wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. Das ganze Ausmaß von Sandbergers Verbrechen wurde in Nürnberg jedoch nicht aufgedeckt. Sandberger erfand eine Geschichte, in der er jüdische Frauen und Kinder absichtlich in die relative Sicherheit außerhalb Estlands geschickt habe, während der Massenmord an den Rom:nja im Einsatzgruppen-Prozess kaum erwähnt wurde. 1951, als er im Gefängnis von Landsberg in der Todeszelle saß, wurde seine Strafe in lebenslange Haft umgewandelt, und 1958 kam er dank einer Amnestie frei.

In den folgenden Jahrzehnten arbeitete Sandberger in einer privaten Firma als Steueranwalt. In den 1960er-Jahren wurde Sandberger mehrfach von westdeutschen Justizbehörden als Zeuge vorgeladen; 1970 wurde ein Ermittlungsverfahren wegen seiner Kriegshandlungen eingeleitet. Der Massenmord an deutschen und tschechoslowakischen Juden:Jüdinnen in Kalevi-Liiva in Estland im Herbst 1942 war der schwerwiegendste Vorwurf gegen Sandberger. Aufgrund einer Gesetzeslücke, nach der niemand erneut für Verbrechen verurteilt werden konnte, für die das US-Militärgericht in Nürnberg bereits ein Urteil gefällt hatte, wurde das Verfahren gegen ihn 1972 eingestellt.

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Sandberger in einem Altersheim in Stuttgart in Süddeutschland. Interviewanfragen von Journalist:innen und Historiker:innen lehnte er stets ab. Sandberger war der letzte überlebende hochrangige Beamte des Reichssicherheitshauptamtes, als er am 30. März 2010 starb.

Zitierweise

Anton Weiss-Wendt: Martin Sandberger, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 31. März 2025.-

1942
27. Oktober 1942Ermordung von 243 Rom:nja in Harku (deutsch besetztes Estland), unter ihnen Karl Siimann, Leontine Siimann und Richard Siimann.
16. Dezember 1942„Auschwitz-Erlass”: Heinrich Himmler, Chef der Schutzstaffel („Reichsführer-SS”), ordnet die Deportation von Sinti:ze und Rom:nja aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
1943
22. Januar 1943Der Leiter der deutschen Sicherheitspolizei in Estland, Dr. Martin Sandberger, ordnet die Deportation aller estnischen Rom:nja an.
10. Februar 1943Massenerschießung von 110 Rom:nja, die zuvor im Zentralgefängnis von Tallinn (deutsch besetztes Estland) inhaftiert waren, durch die deutsche Sicherheitspolizei, wahrscheinlich in Kalevi-Liiva. Unter den Opfern ist Lonny Indus aus Narva, die Ehefrau von Willem Indus, zusammen mit ihren sechs Kindern.
17. Februar 1943Massenerschießung von 337 Rom:nja, die zuvor im Zentralgefängnis von Tallinn (deutsch besetztes Estland) inhaftiert waren, durch die deutsche Sicherheitspolizei, wahrscheinlich in Kalevi-Liiva. Willem Indus aus Narva ist unter den Opfern, ebenso der fünfzehnjährige Pavel Koslovski aus der Gemeinde Petseri und sein Vater, Nikolai Koslovski.
1947
15. September 1947In Nürnberg, Deutschland, beginnt der Einsatzgruppenprozess gegen 24 ehemalige SS-Männer, die für Verbrechen in der von Deutschland besetzten Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges maßgeblich verantwortlich waren.