Zigeunerlager (Begriff)

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Zigeunerlager (Begriff)
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 5. März 2024

Der Begriff ‚Zigeunerlager‘ dient in wissenschaftlichen oder populären Darstellungen häufig der Benennung von Lagern, die während der Jahre 1933 bis 1945 exklusiv für die zwangsweise Unterbringung oder Gefangenschaft von Sinti:ze und Rom:nja errichtet wurden. Auch der Lagerbereich im Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, in den ab dem 26. Februar 1943 mehr als 22 000 Sinti:ze und Rom:nja eingewiesen wurden, wird gewöhnlich so bezeichnet. In der Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa wird dieser Begriff ausschließlich als Quellenbegriff mit entsprechender Kennzeichnung verwendet, da er die tatsächlichen Macht- und Gewaltverhältnisse sowie den Vernichtungsdruck, dem die Betroffenen ausgesetzt waren, verschleiert und das Verfolgungsgeschehen, das sich zu einem Genozid radikalisierte, verharmlost.

Begriffsgeschichte

‚Zigeunerlager‘ wird seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts im Deutschen, aber auch in anderen europäischen Sprachen mit verschiedenen semantischen Bedeutungen verwendet. Ursprünglich bezeichnete der Begriff einen Ort, an dem sich Zigeuner‘ aufhielten, wenn sie auf Durchreise waren, oder einen Platz, auf dem sich ‚Zigeuner‘ mit ihren Wohnwagen niederließen. Seine erste Konjunktur erfuhr der Begriff in der Zeit der Romantik. In der Malerei waren ‚Zigeunerlager‘ beliebte Motive: Wagen, Pferde und Menschen wurden in der freien Natur, oft an Waldrändern oder in Waldlichtungen, situiert. Typische Beispiele sind etwa „Gypsy Camp“ aus dem Jahr 1807 des bedeutenden britischen Malers William Turner (1775–1851) oder das 1873 entstandene Gemälde „Zigeunerlager“ des in Europa weithin bekannten Ungarn Mihály von Munkácsy (1844–1900). Popularisiert wurde das Genre durch Postkarten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts eine rasante Verbreitung erfuhren.

Das Motiv des ‚Zigeunerlagers‘ symbolisierte die Sehnsucht nach Natur, Freiheit und Abenteuer und die Abkehr von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Zwängen. Das ‚Zigeunerlager‘ wurde zu einem Ort außerhalb der Gesellschaft, womit zugleich diejenigen, die an derartigen Un-Orten lebten, als nicht dazugehörend, als Fremde und Heimatlose, markiert wurden. Auch in Literatur und Publizistik waren ‚Zigeunerlager‘ beliebte Motive, die immer wieder zur Kontrastierung von Zivilisiertheit versus Wildheit dienten.1Beispielhaft für das 18. Jhd. etwa Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, 133–136.

Neben romantisierende und verklärende Bilder traten bald abwertende Zuschreibungen hinzu. Armut und Elend wurden mit dem Motiv des ‚Zigeunerlagers‘ verbunden, wie etwa bei Theodor Fontane (1819–1898): „Es war das Armenviertel … eine Art stabil gewordenes Zigeunerlager“ (1905).2Theodor Fontane, Gesammelte Werke, Band I (1), 1905, zit. nach Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [Zugriff 29.06.2023]. Das ‚Zigeunerlager‘ symbolisierte zudem eine Ansammlung  entindividualisierter und nicht kontrollierbarer Menschen. So heißt es in dem 1918 erschienenen Buch „Opfergang“ (S. 36) von Fritz von Unruh (1885–1970): „Wie in einem Zigeunerlager wimmelten Menschen und Tiere durcheinander.“ Das „Wörterbuch der deutschen Sprache – der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute“ gibt als gebräuchliche übertragene Bedeutung von ‚Zigeunerlager‘ die Bezeichnung für einen „Platz“ an, „der Menschen (vorübergehend) als Wohnstätte, Übernachtungsplatz o. Ä. dient und den Eindruck äußerer Unordnung bietet“.3„Zigeunerlager“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Zigeunerlager [Zugriff 29.06.2023].

Vom Stellplatz zum Zwangslager

Bei Ausübung eines ambulanten Gewerbes ließen sich Sinti:ze und Rom:nja mit den zu ihrer Berufspraxis notwendigen Ausstattung (Pferdewagen, Schaustellwagen, Kirmeswagen, Zugwagen, Wohnwagen etc.), wie andere Gewerbetreibende auch, an wechselnden Standorten für unterschiedlich lange Zeiten nieder. Dabei handelte es sich um selbst gewählte Plätze, die gemietet oder gepachtet wurden. Sobald sich mehrere Familien auf einem Stellplatz aufhielten, war von einem ‚Zigeunerlager‘ die Rede. Zwar gab es Repressionen vor allem durch die örtliche Polizei, doch bei bestehenden Verträgen gab es keine rechtliche Handhabe für eine Vertreibung. Mit dem Beginn der NS-Herrschaft änderte sich die Situation grundlegend. Die Behörden gingen dazu über, nach und nach die frei gewählten Stellplätze unter Zwang aufzulösen und seit 1935 vor allem in den größeren Städten bewachte und umzäunte Zwangslager zu errichten. Mit der Festsetzung im Oktober 1939 konnten die Lager nicht mehr verlassen werden und die Lebensbedingungen (Ernährung, Unterkunft, Hygiene, medizinische Versorgung) verschlechterten sich rapide. Totale Erfassung, rassistische Segregation und Kontrolle, Zwangsarbeit, Verarmung, Willkür und Gewalt bestimmten den Alltag der in diese Lager gezwungenen Menschen. Ab 1938 erfolgten vereinzelte, ab 1940 familienweise Deportationen aus diesen Zwangslagern.

Mit dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen im September 1939 und der Zielperspektive des NS-Regimes, alle Sinti:ze und Rom:nja aus dem Reichsgebiet zu deportieren, verschärfte sich die Lagerpolitik. In Zwangslagern wie in Lackenbach (Österreich), Königsberg (Ostpreußen), Lety bei Pisek und Hodonin bei Kunstat (Protektorat Böhmen und Mähren) wurden strenge Lagerordnungen etabliert, mit denen die Insass:innen KZ-ähnlichen Verhältnissen ausgesetzt wurden.

‚Zigeunerlager‘ im Vernichtungslager

In dem Schnellbrief, den Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) am 29. Januar 1943 zur Deportation von Sinti:ze und Rom:nja „in ein Konzentrationslager“ versandte, hieß es u.a.: „Die Einweisung erfolgt […] familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.“4Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Erlass-Sammlung, hrsg. vom Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Berlin, Dezember 1941, Bl. 323. Die Verwendung des Begriffs ‚Zigeunerlager‘ dürfte kein Zufall gewesen sein, suggeriert er doch eine Fortsetzung der bis dahin praktizierten und gesellschaftlich weithin akzeptierten Isolationspolitik und, vor dem Hintergrund der Geschichte des Begriffs, eine vermeintliche Normalität. Tatsächlich jedoch unterschieden sich der für die Einweisung von Sinti:ze und Rom:nja vorgesehene Lagerbereich BIIe in Auschwitz-Birkenau und die dort herrschenden Gewaltverhältnisse nicht von anderen Lagerbereichen: Die Häftlinge lebten im Schatten der Vernichtung und mussten täglich um ihr Überleben kämpfen.

Die Deportationen erfolgten familienweise und bei Ankunft im Lager wurden die Familien nicht getrennt, um sie in die in Auschwitz-Birkenau vorhandenen separaten Bereiche für Männer oder Frauen einzuweisen, sondern zusammen in den Lagerbereich BIIe geführt. Diese Praxis war in Konzentrationslagern, in denen auf eine Geschlechtertrennung strikt geachtet wurde, unüblich. Einen Lagerbereich, in dem Familien zusammenblieben, gab es nur ein zweites Mal, und das ebenfalls in Auschwitz-Birkenau: Das „Familienlager“ für Juden:Jüdinnen aus dem Getto Theresienstadt, das am 8. September 1943 im Lagerbereich BIIb eingerichtet wurde.5Piper, „Familienlager“, 296–298. Dass auch bei Sinti:ze und Rom:nja eine Ausnahme gemacht wurde, ist zum Teil vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Akteure der Verfolgung, insbesondere im Reichskriminalpolizeiamt, in den Jahren zuvor die Erfahrung gemacht hatten, dass eine Trennung von Familien zu anhaltendem Protest und Widerstand führte.6Zimmermann, „Die Entscheidung für ein Zigeunerlager“, 413. Auch fand bei Ankunft der Sinti:ze und Rom:nja keine Selektion statt, mit der deportierte Juden:Jüdinnen, die in Auschwitz-Birkenau eintrafen, seit dem 29. April 1942 üblicher Weise zur anschließenden Ermordung in die Gaskammern oder zur Einlieferung in das Lager ausgewählt wurden.7Die erste Selektion dieser Art fand bei Ankunft eines Deportationszuges mit 1 054 slowakischen Juden:Jüdinnen am 29. April 1942 statt, vgl. Fröbe, „Bauen und Vernichten“, 160. Dies spricht dafür, dass Heinrich Himmler und die Verantwortlichen im Reichskriminalpolizeiamt im Frühjahr 1943 noch im Unklaren darüber waren, ob sie es wagen konnten, die „Zigeunerfrage“ durch einen Massenmord zu „lösen“. Der polnische Historiker Franciszek Piper (geb. 1941) vertrat die Auffassung, die beiden „Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau hätten dazu gedient, die Öffentlichkeit ebenso wie die Opfer über den „wahren Charakter der bisherigen und noch geplanten Deportationen ‚nach Osten‘ zu täuschen“.8Piper, „Familienlager“, 296.

Kinder, Frauen und Männer blieben also in Auschwitz-Birkenau zusammen, weshalb der Lagerbereich BIIe auch ‚Zigeunerfamilienlager‘ genannt wird. Rudolf Höß (1901–1947), von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz und seiner Lagerkomplexe, verwendete in seinen in polnischer Haft 1947/48 verfassten Erinnerungen die Bezeichnung „Familienlager“.9KL Auschwitz in den Augen der SS, 63. Beide Begriffe sind verharmlosend. Längst waren die Familien nicht mehr vollständig, denn die jahrelange Verfolgung hatte bereits zu Haft oder Tod oder Deportation vieler Menschen geführt. Und angesichts der extremen Unterversorgung mit Lebensmitteln und medizinischer Versorgung bei mangelhaften Sanitäreinrichtungen, angesichts der Gewalt der SS-Bewachung und der begangenen Medizinverbrechen starben innerhalb weniger Monate Tausende von Menschen, vor allem die Kinder. Im ‚Zigeunerfamilienlager‘ konnten keine Familien leben; die Bedingungen waren vielmehr so, dass Kinder, Ehepartner:innen, Eltern, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen voreinander sterben mussten. Dies miterleben zu müssen und die Unmöglichkeit, das Sterben zu verhindern, hat den wenigen Überlebenden eine kaum zu ermessende Last auferlegt.

Nach 1945 kam es nicht zuletzt aufgrund der Ignoranz gegenüber den an Sinti:ze und Rom:nja begangenen Verbrechen nicht zu einem Umdenken. Der Begriff ‚Zigeunerlager‘ blieb gebräuchlich.

Einzelnachweise

  • 1
    Beispielhaft für das 18. Jhd. etwa Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, 133–136.
  • 2
    Theodor Fontane, Gesammelte Werke, Band I (1), 1905, zit. nach Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [Zugriff 29.06.2023].
  • 3
    „Zigeunerlager“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Zigeunerlager [Zugriff 29.06.2023].
  • 4
    Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Erlass-Sammlung, hrsg. vom Reichssicherheitshauptamt – Amt V, Berlin, Dezember 1941, Bl. 323.
  • 5
    Piper, „Familienlager“, 296–298.
  • 6
    Zimmermann, „Die Entscheidung für ein Zigeunerlager“, 413.
  • 7
    Die erste Selektion dieser Art fand bei Ankunft eines Deportationszuges mit 1 054 slowakischen Juden:Jüdinnen am 29. April 1942 statt, vgl. Fröbe, „Bauen und Vernichten“, 160.
  • 8
    Piper, „Familienlager“, 296.
  • 9
    KL Auschwitz in den Augen der SS, 63.

Zitierweise

Karola Fings: Zigeunerlager (Begriff), in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 5. März 2024.-

1935
Mai 1935Etwa Mitte Mai 1935 wird das erste Zwangslager für Sinti:ze und Rom:nja (‘Zigeunerlager’) in Köln, Deutschland, eingerichtet.
1940
31. Oktober 1940Ein Erlass des Reichskriminalpolizeiamtes ermöglicht den untergeordneten Stellen in Österreich eine Verschärfung ihrer Politik gegenüber Rom:nja und Sinti:ze, unter anderem durch deren Konzentration in bewachten Siedlungen und Zwangslagern.
1941
22. Juli 1941Das Reichssicherheitshauptamt weist die Kriminalpolizeileitstelle Königsberg an, ein Zwangslager für Sinti:ze und Rom:nja aus Ostpreußen, Deutsches Reich, zu errichten.
1942
2. August 1942Im Protektorat Böhmen und Mähren (deutsch besetzte tschechische Länder) werden die „Zigeunerlager“ Lety bei Pisek und Hodonin bei Kunstadt in Betrieb genommen. In den ersten Tagen werden mehr als tausend Menschen in jedes Lager transportiert.
16. Dezember 1942„Auschwitz-Erlass”: Heinrich Himmler, Chef der Schutzstaffel („Reichsführer SS”), ordnet die Deportation von Sinti:ze und Rom:nja aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
1943
29. Januar 1943Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, Deutschland, erlässt genauere Anweisungen zu der Deportation von Sinti:ze und Rom:nja in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
26. Februar 1943Die ersten Sinti:ze und Rom:nja werden auf der Grundlage des „Auschwitz-Erlasses“ in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in den Lagerabschnitt BIIe deportiert. Ab dem 1. März 1943 treffen fast täglich weitere Deportationszüge mit Sinti:ze und Rom:nja ein.
1944
2. – 3. August 1944Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August die etwa 4 200 bis 4 300 im Lagerbereich BIIe verbliebenen Sinti:ze und Rom:nja in den Gaskammern ermordet.