Die ehemaligen französischen Gebiete Elsass und Lothringen wurden 1940 von Deutschland annektiert und einer rigorosen Germanisierungspolitik unterworfen, von der viele Sinti:ze, Manouches und Jenische betroffen waren, die in diesem Grenzgebiet am Rhein lebten. Die rassistischen Verfolgungen durch die Kriminalpolizei gipfelten in der Deportation von als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Personen aus Straßburg und Saarbrücken in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im März 1943.
Evakuierung, Festsetzung und Inhaftierung
Bei der Evakuierung der Zivilbevölkerung, die in der Nähe der französischen Grenze lebte, evakuierten die französischen Behörden in Erwartung einer deutschen Militärinvasion Personen, die gemäß der Gesetzgebung von 1912 als ‚Nomades‘ bezeichnet wurden, getrennt von der übrigen Bevölkerung. Am 19. September 1939, kurz nach der Kriegserklärung, erließ die Präfektur des Bas-Rhin einen Evakuierungsbefehl speziell für die ‚Korbmacher‘ (‚vanniers‘). Ende November erreichte ein Transport, der ausschließlich aus Familien bestand, die als ‚fahrende Musiker‘ aus dem Nordelsass bezeichnet wurden, Migné, eine ländliche Stadt im Departement Indre. In ähnlicher Weise wurden 54 ‚Nomades‘ aus Forbach in Lothringen an einen Ort in Angoulême, Les Alliers, wahrscheinlich in Hausarrest geschickt, der später zu einem Zwangslager (camps d’internement de nomades) wurde. Im Departement Haut-Rhin beschloss die Präfektur am 30. April 1940, die ‚Nomades‘ aus ihrer Region nach Cernay, in der Nähe von Mulhouse, zu bringen. Das psychiatrische Krankenhaus von Cernay, das als ‚Sammelstelle für Nomades‘ bezeichnet wurde, diente als Durchgangsstation für die Abwicklung des Transports dieser Familien. In der ersten Phase des Krieges behandelten die französischen Behörden die ‚Nomades‘-Familien also anders als die übrige Zivilbevölkerung und evakuierten sie in bestimmte Gebiete im Landesinneren.
Die Manouches, Sinti:ze und Jenischen aus dem Elsass und Lothringen wurden dann mit dem Gesetzdekret vom 6. April 1940, das die Zwangsansiedlung von ‚Nomades‘ auf dem gesamten französischen Staatsgebiet anordnete, festgesetzt. In Aubusson zum Beispiel wurden zahlreiche Elsässer:innen zwangsumgesiedelt. Nach der Errichtung des Vichy-Regimes und dem Erlass des Rundschreibens vom 28. September 1940 wurden viele dieser Evakuierten aus dem Elsass und Lothringen als ‚Nomades‘ in Lagern in der Nähe der Pyrenäen interniert: in Agde, Argelès, Le Barcarès, Rivesaltes und später in Saliers.
Nach der Besetzung durch deutsche Truppen wurden Elsass und Lothringen nach und nach de facto an das Deutsche Reich angegliedert und bildeten neue territoriale Einheiten: Der Gau Oberrhein vereinigte Baden und das Elsass mit Straßburg als Hauptstadt, und der Gau Westmark, der aus dem Saarland und Lothringen bestand, hatte seinen Sitz in Saarbrücken. Zwischen Sommer und Winter 1940 gab es in diesen Gebieten eine brutale Vertreibungspolitik, die sich gegen die als ‚unerwünscht‘ eingestufte Bevölkerung richtete. Die Einsatzgruppe III unter der Leitung von Gustav Adolf Scheel (1907–1979) war für die Durchführung dieser Aufgabe im Elsass verantwortlich. Am 1. Juli 1940 ordnete er eine Zählung der im Elsass anwesenden „Berufsverbrecher und asozialen Personen im Hinblick auf ihre Überwachung und anschließende Evakuierung“ an. Am 14. August 1940 präzisierte eine Mitteilung der Straßburger Polizei die Einzelheiten dieser Aktion und erklärte, dass die als ‚Zigeuner‘ identifizierten Familien in das wenige Tage zuvor eröffnete Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck verlegt werden sollten. Zur Identifizierung von ‚Zigeunern‘ stützten sich die deutschen Polizeikräfte auf die von der französischen Verwaltung angelegten Akten über ‚Nomades‘, führten aber auch selbst Ermittlungen vor Ort durch.
Im November 1940 organisierte die deutsche Polizei eine neue Ausweisungswelle, die sich gegen ‚unerwünschte Elemente‘ richtete. Auf der Grundlage der von den Gendarmerien gesammelten Informationen identifizierten die Polizeidienststellen 664 Personen, die als ‚unerwünscht‘ galten, und wiesen sie im Dezember 1940 aus der Region Straßburg in das unbesetzte Frankreich aus. Viele von ihnen wurden dann als ‚elsässische Nomades‘ in Lagern im Südwesten Frankreichs interniert.
Repressive Polizeimaßnahmen und Erfassung
Im Sommer 1941 nahm die repressive Politik gegen Sinti:ze und Rom:nja eine andere Form an, da ‚Zigeuner‘ anders als die anderen Kategorien von ‚Unerwünschten‘ behandelt wurden. Die Polizeiaktionen gegen ‚Zigeuner‘ wurden gleichzeitig in Elsass und Lothringen von den jeweiligen Kriminalpolizeidienststellen in Straßburg und Metz durchgeführt. Im Juni 1941 ordnete die Kriminalpolizei in Metz die Verhaftung ausländischer ‚Zigeuner‘ und ihre Ausweisung nach Frankreich an, während die deutschen ‚Zigeuner‘ zur Erfassung auf die Polizeiwache gebracht werden sollten. Gleichzeitig wurde der Erlass vom Dezember 1937 über die Vorbeugende Verbrechensbekämpfung am 9. Juli 1941 auf das Elsass ausgedehnt. Zwei Tage später beantragte die Kriminalpolizei in Straßburg die umfassende Erfassung und rassistische Kategorisierung von ‚Zigeunern‘ und ‚Zigeunermischlingen‘. Die Ergebnisse der von den beiden Polizeibehörden durchgeführten Erfassung sind jedoch nicht bekannt.
Obwohl archivalische Quellen über die Situation in Lothringen nur bruchstückhaft überliefert sind, ermöglichen es die von der Straßburger Kriminalpolizei ausgestellten Verhaftungsausweise, die zeitliche Abfolge der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja zu rekonstruieren. Im Jahr 1942 kam es zu einem Politikwechsel in der polizeilichen Behandlung der ‚Zigeuner‘ im Elsass. Bis zum Sommer 1942 organisierten die deutschen Behörden weiterhin Transporte nach Lyon im unbesetzten Frankreich. Am 27. Juni 1942 ordnete die Straßburger Polizei jedoch eine rassistische Zählung an, um „die Zigeunerfrage im Elsass endgültig zu lösen“, wobei sie dieselben Erfassungsmethoden und -formulare benutzte, die zuvor im Reich zur Anlage von Genealogien und der Erfassung von Lebensweisen verwendet worden waren. Ab Sommer 1942 kennzeichneten Kriminalpolizisten mit Unterstützung der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF) 105 Personen als ‚Zigeuner‘. Zur Bestimmung der ‚rassischen‘ Zugehörigkeit der im annektierten Elsass lebenden Sinti:ze und Rom:nja wurden Ahnentafeln herangezogen, die von den Rassenforscher:innen der RHF in ihren Berliner Dienststellen erstellt worden waren.
Deportation nach Auschwitz-Birkenau
Nach den Kriterien, die das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) und die RHF auf der Konferenz vom 15. Januar 1943 zur Umsetzung des Auschwitz-Erlasses festgelegt hatten, organisierte die Straßburger Kriminalpolizei im März 1943 einen Deportationstransport mit 61 Personen. Diese Gruppe bestand hauptsächlich aus deutschstämmigen Sinti:ze, die von Mitarbeiter:innen der RHF in den Vorkriegsjahren als ‚Mischling‘ kategorisiert worden waren, wie die Familie von Maria Barbara Gerste (1880–1943). Die Straßburger Polizei brachte die verhafteten Sinti:ze und Rom:nja in ein ehemaliges Militärkrankenhaus in Kronenburg, einem Vorort von Straßburg, bevor sie sie nach Auschwitz-Birkenau deportierte. Die Massendeportation von Sinti:ze und Rom:nja im Frühjahr 1943 wurde im Rahmen einer gleichzeitigen und deutschlandweit koordinierten Aktion auch im Gau Westmark durchgeführt: Im März führte die Saarbrücker Kriminalpolizei eine groß angelegte Razzia durch und deportierte 63 Personen aus Lothringen und dem Saarland. Nachkriegsaussagen von Überlebenden weisen darauf hin, dass diese Polizeiaktion am 11. März 1943 stattgefunden hat. Nur sehr wenige Deportierte überlebten die katastrophalen Lebensbedingungen in Auschwitz.
Es ist festzuhalten, dass die Kriminalpolizei mit Unterstützung der RHF im annektierten Elsass und Lothringen eine systematische Politik des Völkermords gegen Sinti:ze und Rom:nja betrieb. „Wandernde“ Familien, die am Vorabend des Krieges in diesem Gebiet lebten, wurden in französischen Lagern als ‚Nomades‘ inhaftiert oder als ‚Zigeuner‘ nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Einige Sinti:ze und Rom:nja aus dem annektierten Elsass und Lothringen wurden während des Krieges auch als ‚Asoziale‘ in Konzentrationslager wie Ravensbrück oder Dachau deportiert.
Nachwirkungen
Bis heute gibt es in Elsass und Lothringen keine offizielle Erinnerungspolitik, und die Schicksale der verfolgten Sinti:ze, Manouches, Rom:nja oder Jenischen werden nur durch einige gelegentlich verlegte Stolpersteine sichtbar.