Mit dem „Grundlegenden Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom 14. Dezember 1937 wurde die Kriminalpolizei im Deutschen Reich dazu ermächtigt, ohne richterlichen Beschluss und aus eigenem Ermessen Personen verhaften und auf unbegrenzte Zeit in ein Konzentrationslager einweisen zu können.
Mit der „Vorbeugungshaft“ verfügte die Kriminalpolizei über ein Repressionsinstrument, das der „Schutzhaft“ entsprach, die nur die Gestapo (Geheime Staatspolizei) anordnen konnte. Der Erlass bildete auch die formale Grundlage für die Einweisung Tausender Sinti:ze und Rom:nja in Konzentrationslager; die Deportationen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau basierten ebenfalls auf der Vorbeugungshaft.
Entstehung
Im Nationalsozialismus sollte die Kriminalpolizei nicht allein der Aufklärung von Verbrechen dienen, sondern auch aktiv eine „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher“ (Patrick Wagner) herbeiführen. Damit rückten kriminalbiologische Vorstellungen von angeblich „geborenen Verbrechern“, die präventiv, also schon vor der Begehung einer Straftat, mit polizeilichen Maßnahmen überzogen werden sollten, in den Vordergrund polizeilicher Tätigkeit. Derlei Ideen hatten zwar schon vor 1933 existiert, waren aber in der demokratischen Weimarer Republik nicht durchsetzungsfähig gewesen.
Bereits das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 19331Reichsgesetzblatt Teil I, 17. November 1933, Nr. 133, 995–999. eröffnete Polizei und Justiz weitgehendere Sanktionsmöglichkeiten als zuvor.2Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 193–198; Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“, 123–127. Die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ sollte der Kriminalpolizei noch größere Handlungsspielräume verschaffen.
Das Konzept wurde maßgeblich von Kriminalrat Paul Werner (1900–1970), stellvertretender Leiter des am 26. Juli 1937 neu geschaffenen Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA), ausgearbeitet. Bereits in Preußen erprobte Maßnahmen – die planmäßige Überwachung und die Vorbeugungshaft – wurden auf das gesamte Reich ausgedehnt und die Zielgruppe wurde deutlich erweitert.3Zur Vorreiterrolle des preußischen Landeskriminalpolizeiamtes in Berlin vgl. Hauser, Die Berliner Kriminalpolizei. Der Erlass schuf die Voraussetzungen für die „konsequente Übersetzung der kriminalbiologischen Theorie in exekutive Praxis“.4Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 259 f, Zitat 270. Die Richtlinienkompetenz lag beim RKPA.
Der Erlass und die Richtlinien
Der am 14. Dezember 1937 ergangene Erlass5Der Reichs- und Preußische Minister des Innern, Pol. S-Kr. 3 Nr. 1682/37 – 2098, 14. Dezember 1937 betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, unter Berücksichtigung der Abänderungen vom 23.1.1941 und 8.4.1942, in RSHA, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, 41–44. stützte sich formal auf den § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum „Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, der so genannten Reichstagsbrandverordnung, mit der wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt worden waren. Der Erlass und die am 4. April 1938 dazu ausgegebenen Richtlinien6Reichskriminalpolizeiamt, Tgb. Nr. RKPA 6001 250/38, 4. April 1938, Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamtes über die Durchführung der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung in der Neufassung vom 8.4.42 unter Berücksichtigung der zu RKPA. V A 2 Nr. 451/42 erfolgten Änderungen, in Ebd., 65–78. beschrieben die Verfahrensabläufe sowie die Personenkreise, gegen die vorrangig mit Maßnahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vorgegangen werden sollte.
Verantwortlich für die Einleitung von planmäßiger Überwachung oder Vorbeugungshaft waren in Orten mit staatlicher oder Gemeindekriminalpolizei die Kriminalpolizeistellen, ansonsten die Schutzpolizei oder die Gendarmerie, in denen die Betroffenen ihren Wohn- oder Aufenthaltsort hatten. Nur in Sonderfällen war bei der planmäßigen Überwachung vor der Umsetzung die Bestätigung des RKPA einzuholen, bei der Vorbeugungshaft in jedem Fall. Das RKPA bestimmte auch das Lager, in das die Häftlinge einzuweisen waren.
Die Gültigkeit des Grunderlasses wurde am 26. Juli 1938 auf das angeschlossene Österreich,7Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, S-Kr. 3 Nr. 1137/38, 26. Juli 1938, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In Ebd., 86. am 4. Dezember 1938 auf das annektierte Sudetenland,8Ders., S-Kr. 3 Nr. 2405/38, 4. Dezember 1938, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In Ebd., 107. am 30. September 1940 auf die „eingegliederten Ostgebiete“ (also die annektierten Landesteile Polens),9Der Reichsminister des Innern, Pol. S V B Nr. 1356/40, 30. September 1940, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei. In Ebd., 204. am 9. Juli 1941 auf das annektierte Elsass,10Leroy, Théophile. „Elsass und Lothringen“. In Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 11. Februar 2025. am 9. März 1942 auf das Protektorat Böhmen und Mähren,11Und zwar rückwirkend zum 1. Januar 1942, vgl. Beck, Aletta. „Protectorate of Bohemia and Moravia“. In Encyclopaedia of the Nazi Genocide of the Sinti and Roma in Europe. Ed. by Karola Fings, Research Centre on Antigypsyism at Heidelberg University, Heidelberg 19 December 2024. Bereits am 20. September hatte der Reichsprotektor in Böhmen und Mähren die Gültigkeit des Erlasses für „Rechtsbrecher deutscher Staatsangehörigkeit“ und „Rechtsbrecher nichtdeutscher Staatsangehörigkeit“, sofern sie durch deutsche Gerichte verurteilt worden waren, erklärt. Vgl. Der Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Anordnung über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei im Protektorat Böhmen und Mähren, 20. September 1940, RSHA V B 1 Nr. 1296/40. In RSHA, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, 202. Durchführungsanweisung vom 27. Februar 1941 in Ebd., 222; Erweiterung der Zuständigkeit auf „Asoziale“ vom 11. November 1941 in Ebd., 261. am 2. April 1942 auf das besetzte Luxemburg12Der Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg (Hg.), Verordnungsblatt für Luxemburg, Nr. 24, 14. April 1942, Anordnung über die Einführung kriminalpolizeilicher Vorschriften in Luxemburg vom 2. April 1942 (RSHA V A 2 Allg. Nr. 3728), abgedruckt in Ebd., 281. und am 8. Mai 1942 auf das annektierte Lothringen13Der Reichsstatthalter der Westmark und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen, Ia Pol. I/Tgb. Nr. 729/42, 8. Mai 1942, betr. Vorbeugende Verbrechensbekämpfung (RSHA V A 2 Allg. Nr. 3729), abgedruckt in Ebd., 288. erweitert.
Das Regelwerk hatte bis Kriegsende Bestand; es wurde lediglich im Hinblick auf die Vereinfachung von Verfahrensabläufen geändert. Auf der Grundlage des Erlasses wurden weitreichende Verfolgungsmaßnahmen angeordnet, die das 1939 als Amt V dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) angeschlossene RKPA als eine 370-seitige „Sammlung der auf dem Gebiete der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ergangenen Erlasse und sonstigen Bestimmungen“ im Jahr 1943 veröffentlichte.14RSHA, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Diese Sammlung enthält auch die meisten, explizit gegen Sinti:ze und Rom:nja gerichteten Erlasse des RKPA.
„Planmäßige Überwachung“
Laut Erlass vom 14. Dezember 1937 konnten unter polizeiliche planmäßige Überwachung (PLÜ) „Berufsverbrecher“ („wer das Verbrechen zu seinem Gewerbe gemacht hat und aus dem Erlös seiner Straftaten ganz oder teilweise lebt oder gelebt hat“) und „Gewohnheitsverbrecher“ („wer aus verbrecherischen Trieben oder Neigungen wiederholt in gleicher oder ähnlicher Weise straffällig geworden ist“) gestellt werden [AI1(1)a und b]. Die PLÜ war immer gegenüber denjenigen anzuordnen, die aus der Vorbeugungshaft entlassen wurden [AI2]. Ein weiterer Passus dehnte die PLÜ auf „ganz besondere Ausnahmefälle“ aus, wenn sie „zum Schutze der Volksgemeinschaft“ als unerlässlich angesehen wurden [AI3].
Mit der PLÜ konnten für die Betroffenen nicht weniger als 20 Auflagen verbunden sein [BI1(1)a bis u], die jeweils individuell festgelegt wurden. Dazu gehörten die Auflagen, den Wohn- oder Aufenthaltsort nicht ohne polizeiliche Erlaubnis zu verlassen, sich zur Nachtzeit in der Wohnung aufzuhalten, den Wohnungsschlüssel abzugeben und Wohnungs- oder Arbeitsplatzwechsel unverzüglich zu melden. Gaststättenbesuche, das Führen eines Fahrzeuges, Alkoholkonsum und Tierhaltung konnten ebenfalls verboten werden. Zudem bestand die Verpflichtung, sich um Arbeit zu bemühen.
Die PLÜ war zeitlich nicht begrenzt, allerdings war jeweils nach zwölf Monaten zu prüfen, ob die Fortdauer als noch erforderlich angesehen wurde [BI2(1) und (2)]. Die Entscheidung über eine Aufhebung der PLÜ lag bei den Kriminalpolizeistellen, nur in den Fällen gemäß [AI3] behielt sich das RKPA die Entscheidung vor.
„Vorbeugungshaft“
Unter polizeiliche Vorbeugungshaft konnten laut Erlass „Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher“ genommen werden, die gegen Auflagen der PLÜ verstoßen hatten oder straffällig geworden waren oder die mindestens drei Mal zu Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden waren [AII1(a) bis (c)]; Personen, die aufgrund einer „begangenen schweren Straftat“ als „Gefahr für die Allgemeinheit“ angesehen wurden [AII1(d)]; Personen, die „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein“, durch ihr „asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährde[n]“ [AII1(e)]; Menschen, die keine oder offensichtlich falsche Angaben über ihre Person machten oder unter Verdacht standen, Straftaten zu verdecken oder unter falschem Namen begehen zu wollen [AII1(f)]. Bei Ausländern, die für die Vorbeugungshaft in Frage kamen, war zu prüfen, ob eine Ausweisung möglich sei; Staatenlose waren in „Ausweisungshaft in einem Konzentrationslager“ zu nehmen [AII3].
Die Haft sollte „in geschlossenen Besserungs- und Arbeitslagern“ oder auf Anordnung des RKPA „in sonstiger Weise“ vollstreckt werden. Erst in den Richtlinien vom 4. April 1938 werden die „Besserungs- und Arbeitslager“ ausdrücklich als Konzentrationslager benannt. Die Dauer der Haft war (bis auf die Personengruppe unter AII1(f)) zeitlich unbegrenzt („so lange, wie ihr Zweck es erfordert“) [BIIa1]. Unterstützungsbedürftige Angehörige der Verhafteten waren der zuständigen Stelle der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zu melden [BIIa2]. Frühestens nach zwölf Monaten und spätestens nach zwei Jahren war eine Haftprüfung vorzunehmen [BIIa3]. Sofern eine Entlassung in Frage kam, war vorab zu prüfen, ob dem zu Entlassenden eine Arbeitsstelle zugewiesen werden konnte [BIIb].
Das RKPA entschied als letzte Instanz über eine mögliche Entlassung, bei mehr als vierjähriger Haftzeit lag die Entscheidung allein beim Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) [BIII3].
„Asoziale“ als neuer Tätertyp und Zielgruppe
In den Richtlinien vom 4. April 1938 wurde der Polizeiapparat auf die Aufgabe eingeschworen, die „vorbeugende Abwehr aller das Volk und den Staat gefährdenden Bestrebungen durchzuführen“ [Vorbemerkung]. Als besondere Zielgruppe insbesondere der Vorbeugungshaft wurden neben „Berufs- und Gewohnheitsverbrechern“ und „Gemeingefährlichen“, die schon immer im Fokus der Kriminalpolizei standen, explizit „Asoziale“ genannt [BI Abs. 7]. Mit diesem Begriff wurde ein neuer Tätertyp geprägt, dem nunmehr mit polizeilichen Maßnahmen zu Leibe gerückt werden sollte.
Arthur Nebe (1894–1945), der Leiter des RKPA, war davon überzeugt, dass „Asoziale“ als Ursache allen Übels anzusehen seien. In einem programmatischen Artikel über den Aufbau der deutschen Kriminalpolizei betonte er, der Kampf gelte besonders den „asozialen Elementen, in denen das Verbrechertum letzten Endes seine Wurzeln hat, aus denen es seine Kraft schöpft und seine Ergänzung erhält.“15Arthur Nebe. „Aufbau der deutschen Kriminalpolizei.“ In Kriminalistik 12 (1938), Heft 1, 4–8, Zitat 4 f, zit. nach Wildt, Generation des Unbedingten, 321. Die nationalsozialistische Kriminalpolizei nahm nun das subproletarische Milieu ins Visier, das schon vor 1933 als „Nährboden der Kriminalität“ verteufelt worden war.16Wagner, „Kriminalprävention qua Massenmord“, 386.
Dieser Personenkreis wurde in den Richtlinien nun wie folgt definiert: „Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches, Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will.“ Weiter wurde ausgeführt: „Demnach sind z.B. asozial: a) Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen (z.B. Bettler, Landstreicher [Zigeuner], Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen); b) Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen (z.B. Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunksüchtige)“ [BI Abs. 9]. Diese weit gefasste Definition ermöglichte den Zugriff auf alle als unerwünscht geltenden Personen.
Patrick Wagner (geb. 1961) ordnet die Ausdehnung der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf als „asozial“ Klassifizierte in eine „breite Strömung zur Radikalisierung der NS-Rassenpolitiken, vom Antisemitismus über die Zigeunerverfolgung bis zur Rassenhygiene“ ein.17Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 278. Entscheidende Impulse gaben dem RKPA Werner Best (1903–1989), der innerhalb der Gestapo die Umrisse einer völkischen Gesellschaftspolitik entworfen hatte,18Ebd., 264. Ausführlich Herbert, Best, 163–180. und der Leiter der seit 1936 bestehenden Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF), Robert Ritter (1901–1951). Ritter war sowohl mit Nebe als auch mit Werner nicht nur bekannt, sondern auch befreundet. Paul Werner, damals noch Leiter der badischen Kriminalpolizei, hatte Ritter mit polizeilichen Unterlagen für die Abfassung seiner 1937 erschienenen Habilitationsschrift „Ein Menschenschlag“ unterstützt, und er griff auf Ritter zurück, wenn es um die „notwendige Wissenschaftlichkeit“ der Methoden der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ ging.19Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 273 f; Wagner, „Kriminalprävention qua Massenmord“, 384–389.
Ritter war bei weitem nicht der Einzige, der rassenhygienische Konzepte in den – sich an den rassenpolitischen Linien des NS-Regimes ausrichtenden – Diskurs der Kriminalpolizei einbrachte. Er war jedoch derjenige, der aufgrund seiner persönlichen und beruflichen Nähe zur Führungsspitze der Kriminalpolizei unmittelbaren Einfluss nahm und wie kein anderer die Bekämpfung von „Asozialen“ mit der Bekämpfung von „Zigeunern“ verband.
In seiner Habilitation meinte Ritter den Nachweis erbracht zu haben, dass der „jenische Menschenschlag“, über Jahrhunderte „allmählich sesshaft gemacht“, „Asozialennester“ gebildet hätte, die „gleichzeitig zu Zufluchtstätten der Zigeuner und der Kriminellen“ geworden seien.20Ritter, „Die Asozialen, ihre Vorfahren und ihre Nachkommen“, 149. Diese „Nester von Asozialen und Erbminderwertigen“, so Ritter, seien nicht nur die „Brutstätten des Verbrechens“, sondern auch die „biologischen Brutstätten“, aus denen die „Asozialen und die geborenen Verbrecher“ hervorgingen;21Ritter, „Die Aufgaben der Kriminalbiologie“, 39. diese Gruppe bezeichnete er an anderer Stelle als „form- und charakterloses Lumpenproletariat“.22Ritter, „Die Zigeunerfrage“, 15. Als „erstes und am ehesten lösbares Teilproblem“ der „Asozialenfrage“ wollte Ritter im Rahmen der RHF die „Zigeunerfrage“ in Angriff nehmen.23Reiter, Das Reichsgesundheitsamt, 357.
Die Zusammenarbeit mit Ritter war für das RKPA insofern attraktiv, als er behauptete, er könne die „biologische Bedingtheit der Asozialität“24Ritter, „Die Asozialen, ihre Vorfahren und ihre Nachkommen“, 139. wissenschaftlich fundieren – und so auch der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ zu Legitimität verhelfen. Von noch größerer Bedeutung war vermutlich, dass Ritter der Kriminalpolizei stets auch „praktische Lösungen“ andiente.
Diesen Aspekt seiner Arbeit hob er regelmäßig gegenüber der Deutschen Forschungsgemeinschaft hervor – und ließ sich Empfehlungsschreiben des RKPA ausstellen. Dies hatte augenscheinlich den gewünschten Effekt, denn Ritter konnte sich von 1937 bis 1944 eine durchgängige Förderung sichern, wofür ihm ein großer Teil der für „Asozialen- und kriminalbiologische Forschung“ vorgesehenen Mittel bewilligt wurde.25Vgl. Cottebrune, „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft“, 372.
Das Etikett „asozial“ amalgamierte schließlich zu einem Sammelbegriff, der Vorbestrafte und in Haft Befindliche sowie aus rassistischen oder sozialrassistischen26Der von der Historikerin Gisela Bock geprägte Begriff wird hier in Anlehnung an die Ausführungen von Oliver Gaida und Alyn Šišić verwendet, um die „biologistisch begründete Abwertung, Ausgrenzung und Verfolgung wegen angenommener oder tatsächlich bestehender sozialer Situationen oder eines sozial unerwünschten Verhaltens“ zu fassen. Gaida et al., Im Zugriff von Fürsorge und Polizei, 8. Gründen Stigmatisierte gleichermaßen umfasste, und damit dem NS-Verfolgungsapparat große Spielräume eröffnete. Mit der am 18. September 1942 zwischen Justizminister Otto Thierack (1889–1946) und Heinrich Himmler getroffenen Vereinbarung zur „Abgabe asozialer Gefangener“ wurden bis Mitte 1943 rund 15 600 Männer und rund 1 700 Frauen aus Gefängnissen und Zuchthäusern ohne Einschaltung der Gerichtsbarkeit in Konzentrationslager überstellt.27Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 336 f.
Institutionelle Verankerung
Mit der Neuordnung der Kriminalpolizei zum 1. Oktober 1936 erhielt das von Arthur Nebe geleitete preußische Landeskriminalpolizeiamt – am 16. Juli 1937 in Reichskriminalpolizeiamt umbenannt – die fachliche Zuständigkeit über alle deutschen Kriminalpolizeien.
Das Sachgebiet „Vorbeugungshaft und planmäßige Überwachung“ wurde in Abteilung I (Referat I A) bearbeitet, der Abteilung II (Referat II B) war die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zugeordnet, die bis zum 1. Oktober 1938 jedoch räumlich in München angesiedelt blieb.28Reichsministerialblatt der inneren Verwaltung (RMBliV) 1936, Runderlass zur Neuordnung der Reichskriminalpolizei des Reichsministers des Innern vom 20. September 1936. Der Umzug der „Reichszentrale“ aus München nach Berlin erfolgte erst zum 1. Oktober 1938; bis dahin verwendete die Münchner „Zigeunerpolizeistelle“ weiterhin ihre alten Briefköpfe, vgl. Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau, 102. Beide Sachgebiete wurden organisatorisch sukzessive enger miteinander verbunden, insbesondere seit der Eingliederung des RKPA in das RSHA. 1938 noch dem Referat „S.-Kr. 3“ zugeordnet, wurde „Vorbeugung“ 1939/40 im RKPA als eigenständige Gruppe V B geführt und in drei Referate gegliedert: „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ (B1), „Asoziale und Zigeuner“ (B2), Kriminalforschung (B3).29Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 114; Bundesarchiv Berlin (BArch), RD 19/29, Jahrbuch Amt V (RKPA) des RSHA 1939/1940, 44. Seit September 1939 hatte das RKPA seinen Sitz in einem „arisierten“ Gebäude am Werderschen Markt 5–6 in Berlin.
Der Geschäftsverteilungsplan des RSHA vom März 1941 zeigt die letzte, dann bis Kriegsende geltende Aufteilung. Dem als Amt V dem RSHA angegliederten RKPA unterstand der von Paul Werner geleiteten Gruppe V A („Kriminalpolitik und Vorbeugung“) das Referat V A 2 („Vorbeugung“) mit sämtlichen Sachgebieten der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, darunter auch die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“.30Vgl. Landesarchiv Berlin, B Rep. 057-01 Nr. 368, Geschäftsverteilungsplan des RSHA, 1. März 1941; Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 114.
Ebenfalls 1941 sorgte Paul Werner dafür, dass Ritter zusätzlich zur Leitung der RHF auch die Leitung des schließlich am 21. Dezember 1941 neu geschaffenen „Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei im Reichskriminalpolizeiamt“ erhielt. Das Institut sollte die Kriminalpolizei bei allen Grundsatzfragen der Kriminalbiologie beraten und ein „Asozialen- und Verbrecherarchiv“ aufbauen. Zum Aufgabengebiet gehörte außerdem die Begutachtung „jugendlicher Gemeinschaftsfremder“, die im Zusammenhang mit der Einweisung von Jugendlichen in Jugendkonzentrationslager stand.31Im Folgenden nach Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 384–393; Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 154 f.
Instrument der Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja
Während die übergroße Mehrheit der jüdischen Bevölkerung mittels der Schutzhaft der Gestapo in Konzentrationslager deportiert wurde, kam bei Sinti:ze und Rom:nja die Vorbeugungshaft der Kripo zur Anwendung.
Die erste große Verhaftungswelle von Sinti und Roma auf der Basis der Vorbeugungshaft fand im Juni 1938 im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ statt, von der mehrere Hundert Sinti oder Roma – jeder achte männliche Erwachsene – betroffen waren.32Fings, „Aktion Arbeitsscheu Reich“. Die Verhaftungen dienten der Rekrutierung von Zwangsarbeitern für die Unternehmungen der Schutzstaffel (SS) in den Konzentrationslagern. Gleichzeitig sollte eine abschreckende Wirkung auf die Gesamtbevölkerung erzielt werden, um angesichts des wegen der Rüstungskonjunktur leergefegten Arbeitsmarktes mehr Produktivität zu erzwingen.
Während bei der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ nur Männer betroffen waren und Sinti oder Roma nur einen kleinen Teil der Verschleppten darstellten, betraf die nächste „Aktion“ im Rahmen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ im Juni 1939 ausschließlich österreichische Rom:nja aus dem Burgenland: 553 Männer wurden nach Dachau und 440 Frauen nach Ravensbrück deportiert.33BArch, RD 19/29, Jahrbuch Amt V (RKPA) des RSHA 1939/1940, 5. In dem Erlass, den das RKPA an die Kriminalpolizeileitstelle Wien am 5. Juni 1939 verschickt hatte, wurde die pauschale Anordnung polizeilicher Vorbeugungshaft damit begründet, dass es sich um „arbeitsscheue“ und „in besonderem Maße asozial[e] Zigeuner und Zigeunermischlinge“ handele.34RKPA, Tgb. Nr. IA 2 d 6001/430.39, 5. Juni 1939, Vorbeugende Maßnahmen zu Bekämpfung der Zigeunerplage im Burgenland, in RSHA, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, 134vr.
Mit dem Festsetzungserlass vom 17. Oktober 1939 wurden alle Angehörigen der Minderheit faktisch unter „planmäßige Überwachung“ gestellt: Sobald Sinti:ze und Rom:nja von der Kriminalpolizei erfasst waren, durften sie ihren Wohn- oder Aufenthaltsort unter Androhung von Vorbeugungshaft nicht mehr verlassen.35RSHA, Tgb. Nr. RKPA. 149/1939 –g– , 17. Oktober 1939, Zigeunererfassung, in Ebd., 156vr.
Eine weitere kollektive Verfolgungsmaßnahme richtete sich gegen Sintize und Romnja, die wegen Wahrsagens bestraft worden waren oder auch nur im Verdacht des Wahrsagens standen. Diese Frauen sollten laut Anordnung vom 20. November 1939 in Vorbeugungshaft genommen werden, da sie als „Gefahrenquelle für die öffentliche Sicherheit“ galten.36RSHA V (RKPA.) Nr. 6001/474.39, 20. November 1939, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei, in RSHA, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, 162. Zitat nach Mitteilungsblatt des RKPA, Januar 1940, 1, auch abgedruckt in Ebd., 369r.
Mit der „Festsetzung“ und der Vorbeugungshaft verfügte die Kriminalpolizei über schlagkräftige Mittel, um auch bei geringfügigen Anlässen Sinti:ze und Rom:nja in Konzentrationslager einzuweisen. Sie machte davon in Hunderten von Fällen Gebrauch, auch weil die zu Kriegsbeginn angekündigten Deportationen aller Sinti:ze und Rom:nja aus dem Reich – bis auf die Deportationen ins Generalgouvernement und in das Getto Litzmannstadt 1940 und 1941 – zunächst ausblieben.37Zahlreiche Beispiele in Fings et al., Rassimus, Lager, Völkermord, 237–255.
Die rassenpolitische Dimension der Vorbeugungshaft bei Sinti:ze und Rom:nja wird besonders deutlich an den ab dem Februar 1943 gemäß Auschwitz-Erlass einsetzenden Deportationen. Formal wurden die nach Auschwitz-Birkenau deportierten Kinder, Frauen und Männer vor ihrem Abtransport in Vorbeugungshaft genommen; um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, wurde dabei auf eine Haftbestätigung durch das RKPA verzichtet.
„Gemeinschaftsfremde“
Robert Ritter hatte die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ des RKPA ausdrücklich als „einen ersten Schritt“ begrüßt. Die Maßnahmen gingen ihm jedoch nicht weit genug: Über die PLÜ und die Inhaftnahme hinaus forderte er eine konsequente „Verhinderung der Fortpflanzung der Angehörigen asozialer Familien“, also eine staatlich angeordnete Sterilisation.38Ritter, „Die Asozialen, ihre Vorfahren und ihre Nachkommen“,153 f.
Die Umsetzung dieser Forderung nahm in den Jahren 1943/44 allmählich Gestalt an. Eine nochmalige Ausweitung der Zielgruppe und eine Radikalisierung der Maßnahmen waren seit 1939 auf höchster Ebene diskutiert worden; Reinhard Heydrich (1904–1942), Leiter des RSHA, arbeitete am Entwurf eines Gesetzes über „Gemeinschaftsfremde“, das den Erlass über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ ersetzen sollte. Auch Ritter und Werner wirkten daran mit.39Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 384–393. Der Begriff „Gemeinschaftsfremde“ sollte nun (statt „Asoziale“) für alle diejenigen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ gelten, deren Erbanlagen als schädlich angesehen wurden.
In dem letzten überlieferten Entwurf des Gesetzes vom 20. März 1944 war die Definition dieser Gruppe so weit gefasst, dass jedwedes unerwünschte Verhalten als „gemeinschaftsfremd“ verstanden werden konnte. Zusätzlich zur PLÜ und der Vorbeugungshaft waren die Zwangssterilisation und die Auslieferung von „Gemeinschaftsfremden“ aus der Justiz an die Polizei vorgesehen, womit die im September 1942 zwischen Thierack und Himmler getroffene Vereinbarung zum Regelfall werden sollte. Es war geplant, das Gesetz am 1. April 1945 in Kraft treten zu lassen; der Vormarsch der Alliierten kam dem zuvor.
Wirkung über 1945 hinaus
In den Konzentrationslagern wurden die als „Berufsverbrecher“ Eingewiesenen mit einem grünen Winkel, die als „Asoziale“ Stigmatisierten mit einem schwarzen Winkel auf der Häftlingskleidung gekennzeichnet. Bis zum Kriegsende veranlasste das RKPA die Einweisung von etwa 110 000 Menschen in Konzentrationslager, etwa 30 000 von ihnen waren Sinti:ze und Rom:nja.40Wagner, „Kriminalprävention qua Massenmord“, 379.
Da die übergroße Mehrheit der Kriminalbeamten nach Kriegsende in ihre vorherigen Positionen zurückkehren konnte, war es diesen ein Leichtes, Strafanzeigen von Überlebenden abzuwehren und die Kriminalpolizei als eine Institution darzustellen, die nicht mit dem Unrechtssystem des Nationalsozialismus verbunden gewesen sei. Dies ging einher mit der Behauptung, die Opfer der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ wären allein deshalb in Haft genommen worden, weil sie Kriminelle gewesen seien – und damit aus Gründen, die nach wie vor als rechtmäßig anzusehen seien.
Dieses Narrativ bestimmte über Jahrzehnte den Blick auf die Opfer, die unter den Stigmata „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Nach einer Vielzahl von Initiativen erreichte die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma schließlich im Jahr 1982, dass die Verfolgung der Angehörigen der Minderheit als rassenpolitisch motivierter Genozid von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde.
Den übrigen Opfern der Kriminalpolizei, bei denen es sich um eine sehr heterogene Gruppe handelte, gelang aufgrund starker gesellschaftlicher Ablehnung weder eine kollektive Organisierung, noch ein Anschluss an die Organisationen von Überlebenden der Konzentrationslager.41Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, 406. Die Geschichtswissenschaft interessierte sich erst seit den 1990er-Jahren für diese Opfergruppe.
Eine gesellschaftliche Debatte für eine Anerkennung ignorierter KZ-Opfer setzte in Deutschland aufgrund des Engagements einer Bürgerinitiative ein, die Angehörige und Wissenschaftler:innen ins Leben gerufen hatten. Die Initiative startete am 14. Januar 2018 eine Petition und erreichte, dass der Deutsche Bundestag am 13. Februar 2020 die „Anerkennung der von den Nationalsozialisten als ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ Verfolgten“ beschloss. In der Beschlussvorlage hieß es unter anderem: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.“42Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/14342 vom 22. Oktober 2019, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, 3. Gleichzeitig gab der Bundestag eine Ausstellung zu dieser Opfergruppe in Auftrag. Diese wurde von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erarbeitet und am 10. Oktober 2024 in Berlin unter dem Titel „Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – heute“ eröffnet.43Siehe https://www.die-verleugneten.de/ausstellung/ [Zugriff: 26.03.2025].
Um die gesellschaftliche Auseinandersetzung und die Erinnerung an die Opfer weiter zu fördern, gründeten Angehörige von als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgten am 20. Januar 2023 in Nürnberg den „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ (vevon).44Siehe https://www.dieverleugneten-vevon.de [Zugriff: 26.03.2025]. Erster Vorsitzender ist Prof. Dr. Frank Nonnenmacher (geb. 1940), dessen Onkel Ernst Nonnenmacher (1908–1989) die Konzentrationslager Flossenbürg und Sachsenhausen überlebt hatte.
In Österreich wurde diese Opfergruppe am 12. Juni 2024 durch eine vom Nationalrat verabschiedete Novelle des Opferfürsorgegesetzes von 1947 anerkannt.45266. Sitzung des Nationalrats, 12. Juni 2024, in Parlament Österreich, https://www.parlament.gv.at/gegenstand/XXVII/I/2588?selectedStage=105 [Zugriff: 08.04.2025].