Das Vereinigte Königreich erklärte Deutschland am 3. September 1939 als unmittelbare Reaktion auf den deutschen Überfall auf Polen den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt waren sich die britischen Behörden und die breite Öffentlichkeit der zunehmenden Verfolgung der deutschen Juden:Jüdinnen weitgehend bewusst, und in der Presse wurde auch über die wichtigsten rechtlichen Maßnahmen gegen Rom:nja berichtet. Es ist jedoch schwer zu beurteilen, wie viel Aufmerksamkeit den Informationen geschenkt wurde und wie weit sich dieses Wissen verbreitete. Die Reaktionen auf die Situation der europäischen Rom:nja wurden durch die Haltung gegenüber den britischen „Gypsies“ gefiltert. In Kriegszeiten berichtete die Presse gelegentlich über Deportationen und Massaker, und die britische Regierung sowie der Geheimdienst hatten Zugang zu einigen Informationen über Auschwitz-Birkenau, aber es gibt keine Belege für eine offizielle Reaktion. Eine Konfrontation mit und eine Anerkennung der Verfolgung seitens britischer Akteure erfolgte vorranging im Zusammenhang mit der Befreiung der Konzentrationslager und den Nachkriegsprozessen unter britischer Gerichtsbarkeit. Britische Institutionen und Einzelpersonen trugen zur frühen Dokumentation des Völkermordes bei. Ein Gedenken entwickelte sich relativ spät.
Rom:nja (Gypsies and Travellers) in Großbritannien
Einer zeitgenössischen Schätzung zufolge gab es bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges etwa 45 000 Rom:nja in England, was die Mehrheit der Rom:nja in Großbritannien (England, Schottland und Wales) ausmachte.1Harvey, „Wartime Work of English Gypsies”. Die Anwesenheit von Menschen „ex parva Egipto“ wird in Schottland erstmals 1504 erwähnt, und in England gibt es Aufzeichnungen über „Gypsions“ aus den Jahren 1513/14.2Tcherenkov/Laederich, 93f. Im 20. Jahrhundert umfasste die Romani-Bevölkerung auch Romanes sprechende walisische Kale und englische und schottische Travellers. Manche Travellers (die Romanichal oder Romany Gypsies) verwendeten im täglichen Leben immer noch eine Form des Romanes (Anglo-Romani), andere benutzten die Sprache nicht, teilten aber Lebensstil und kulturelle Praktiken mit den Romanichal. Eine weitere Gruppe, die nicht den Communitys der Rom:nja angehörenden irischen Travellers, war um 1850 nach Großbritannien gekommen, und eine Handvoll Familien, hauptsächlich Kalderash aus Kontinentaleuropa, hatten sich seit den 1910er Jahren dort niedergelassen.3Kenrick, „Foreign Gypsies and British immigration law after 1945”.
Im 21. Jahrhundert bezeichnen sich die Mitglieder dieser Gruppen weiterhin sowohl als „Gypsies“ als auch als „Travellers“, und in diesem Text wird die Bezeichnung „Gypsies und Travellers“ verwendet, es sei denn, in den Quellen wird eine klare Unterscheidung getroffen. Aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft und der politischen Behörden zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren „Gypsies“ nicht durch ihre ethnische Zugehörigkeit, sondern durch ihre Mobilität und das Wohnen in Wohnwagen definiert. Diese waren wiederum mit bestimmten wirtschaftlichen Aktivitäten verbunden: Pferdehandel, Hausieren, Wahrsagen, Metall- und Keramikarbeiten, Korbflechten und gelegentliches Betteln und Musizieren. Gypsies und Travellers arbeiteten auch regelmäßig als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.4Reid, „Scottish Gypsies/Travellers and the folklorists”; Bakker, „The genesis of Anglo-Romani”.
Während des Ersten Weltkrieges führten die Kriegskontrollen und die Abwesenheit von Männern im Militärdienst dazu, dass einige Familien das Reisen ganz aufgaben, und die folgenden Jahre brachten weitere Veränderungen mit sich, da Massenproduktion und Motorisierung die Nachfrage nach ihren historischen Berufen und Dienstleistungen reduzierten. Für die reisenden Familien gewann die Arbeit in der Landwirtschaft an Bedeutung, zusammen mit einer Verlagerung auf den Handel mit Altmetall und Kraftfahrzeugen. Diejenigen, die weiterhin reisten, versuchten, wann immer es möglich war, in den Städten ein Winterquartier zu finden, wobei sie manchmal sichere Stellplätze für ihre Wohnwagen fanden und manchmal Wohnungen in Armenvierteln mieteten.5Taylor, A Minority and the State, 30–31, 35–36.
Nach dem Ersten Weltkrieg war die Hauptursache für Konflikte zwischen Gypsies und Travellers auf der einen und staatlichen Behörden auf der anderen Seite die Verweigerung des Rechts, auf öffentlichen Plätzen zu kampieren; hier waren es vor allem die lokalen Behörden und die Polizei, die die Initiative gegen sie ergriffen. In den 1890er Jahren hatten sich Gypsiesan der politischen Lobbyarbeit gegen Gesetzesvorlagen beteiligt; nach 1914 kam es häufiger zu spontanen und organisierten Kollektivaktionen ihrerseits. Das Wachstum großer Siedlungen von Wohnwagenbewohner:innen auf Grundstücken, die sie entweder gepachtet oder von privaten Vermieter:innen gekauft hatten, ließ bei Behörden Befürchtungen aufkommen, zumal sie keine Handhabe hatten, gegen solche Verträge vorzugehen. Mitte der 1930er Jahre wurden die bestehenden Reiseverbote aufgehoben (wobei es nach wie vor unmöglich war, legal zu campen), während gleichzeitig die polizeilichen Befugnisse zur Bekämpfung von „schmutzigen oder von Ungeziefer befallenen Räumen“ verstärkt wurden. Obwohl Elemente des wissenschaftlichen Rassismus und anthropometrische Phantasien in den 1930er Jahren in Gesprächen über „Gypsies“ präsent waren (nicht zuletzt in den Kreisen der Gypsy Lore Society), fanden sie keinen Widerhall in der offiziellen Politik. Nichtsdestotrotz kam es zu lokalen Maßnahmen wie der Absonderung von Familien auf bestimmte Lagerplätze (Compounds, wie etwa im New Forest) und der Zwangsansiedlung sowie zum Entzug von Kindern (das schottische „Tinker-Experiment“), die an die kontinentalen Praktiken derselben Zeit erinnern.6Mayall, English Gypsies and State Policies; Cressy, Gypsies: An English History; Taylor, A Minority and the State; McPhee, „The Uglier Side of Bonnie Scotland: The Tinker Housing Experiments“.
Rom:nja während des Zweiten Weltkrieges
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Gypsies und Travellers ebenfalls der landesweiten Volkszählung unterworfen, was es ihnen ermöglichte, Personalausweise und Rationsbücher zu erhalten, wobei die besonderen Schwierigkeiten, die sie beim Zugang zu rationierten Lebensmitteln und Kleidung haben konnten, offiziell nicht berücksichtigt wurden. Das Innenministerium zog in Erwägung, sie zu internieren oder ihre Mobilität einzuschränken, verwarf diese Idee jedoch, vor allem aus Angst, dass die öffentliche Meinung diese Maßnahmen als ungerecht empfinden würde. Die Frage, wie patriotisch sie waren, wurde implizit in einer anhaltenden öffentlichen Diskussion darüber aufgeworfen, ob sie einen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisteten. In der Praxis spielten sowohl Männer als auch Frauen trotz der Hindernisse, die sich aus ihrer marginalen Stellung und ihrer geringen Lese- und Schreibfähigkeit ergaben, eine wichtige Rolle, indem sie sich für Militär- und Hilfsdienste meldeten und in der Kriegsproduktion, Forst- und Landwirtschaft arbeiteten. Roma waren unter den ausgezeichneten Kriegshelden Großbritanniens, wie der Pilot Eric Stanley Lock (1919–1941), Träger des Distinguished Service Order. Manche Romani Soldaten zögerten jedoch, ihre Identität preiszugeben, da sie Diskriminierung oder Schikanen befürchteten, und die Presse berichtete weiterhin über das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber „Gypsies“. Gleichzeitig gibt esin Einzelfällen Belege dafür, dass die Zusammenarbeit während des Krieges die Vertrautheit und den Respekt untereinander förderte.7Taylor, A Minority and the State, 36–48; „Romany Harvest”, The Citizen (Gloucester), 14. August 1944; Harvey, „Wartime Work of English Gypsies”; Newberry Library, Chicago, Alfred Hammill Papers, Dora Yates Letters, Dora Yates to Alfred Hamill, 7. April 1941, 22. August 1941; National Archives, Kew (TNA) WO-390-9, Register of the Distinguished Service Order; Cowles, „Studies of British and Foreign Gypsies”.
Die deutschen Behörden zeigten Interesse an der Situation der britischen Rom:nja. Im Juli 1942 schrieb die Abteilung Auslandsaufklärung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) an die deutschen Sicherheits- und Polizeiverbindungsbeamten in Westeuropa. Sie wurden angewiesen, alliierte Gefangene zu verhören, um herauszufinden, wie viele „Zigeuner“ es in Großbritannien gab und unter welchen Bedingungen und Kontrollen sie lebten. Donald Kenrick (1929–2015) und Grattan Puxon (geb. 1939), die dieses Dokument zuerst entdeckten, sahen darin einen Beweis für deutsche Pläne, den Völkermord an den Rom:nja auf Großbritannien auszuweiten. Die Quelle und der Zeitpunkt legen jedoch nahe, dass die Nazis, wie Michael Zimmermann (1951–2007) vorschlägt, darauf spekulierten, dass Rom:nja aufgrund ihrer Unzufriedenheit geneigt sein könnten, als Spione für Deutschland zu arbeiten (in Anlehnung an die Politik, die mit irischen Republikanern und indischen Antikolonialisten verfolgt wurde). Die einzige erhaltene Antwort auf das RSHA-Rundschreiben kam aus Den Haag, wo der Befehlshaber der Sipo und des SD berichtete, dass die befragten Häftlinge nur wenige oder gar keine „Zigeuner“ gesehen und nichts Interessantes zu berichten hätten.8Bundesarchiv Lichterfelde, R 70 Niederlande 7, 13–18; Kenrick und Puxon, The Destiny of Europe’s Gypsies, 86–87; Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, 196–97.
Wissen über und Einstellung zum Völkermord unter Rom:nja
Als Dora Esther Yates (1879–1973), Sekretärin der Gypsy Lore Society, 1939 Presseberichte über „Gypsies“ kommentierte, die sich für den Krieg meldeten, erklärte sie: „Sie sind Anti-Nazi. Und sie haben mit den Deutschen noch eine Rechnung offen wegen der Verfolgung der Zigeuner in Deutschland“.9„Gipsies are joining up”, The Daily Mirror, 27. Oktober 1939. Die wenigen öffentlichen Äußerungen von Gypsies und Travellers selbst über ihren Kriegsdienst betonten eher ihren eigenen Patriotismus als die Politik der Nazis.10Isaac Pinder, „Gipsy’s Reply”, The Daily Telegraph and Morning Post, 6. März 1944; E. Winter, „Patriotic Gypsies”, The Daily Telegraph and Morning Post, 13. März 1944; Edward Harvey, „Gypsies on War Work” (Skript für eine Sendung der BBC Children’s Hour), Januar 1942, University of Liverpool Library, Liverpool, Special Collections, Gypsy Lore Society Archives, GLS XLIV/127. Und in der Tat ist es schwierig festzustellen, wie bewusst sie sich der zunehmenden Verfolgung auf dem Kontinent waren. Sie hatten weder politische Organisationen noch eine eigene Presse, und es gab nur wenige oder gar keine Sinti:ze oder Rom:nja als Flüchtlinge in Großbritannien. Die Belege dafür, was sie wussten oder woher sie es gewusst haben könnten, sind dementsprechend begrenzt und anekdotisch und bestehen größtenteils aus Berichten von nicht der Minderheit angehörenden Personen. So traf Edward Harvey (unbekannt–unbekannt) 1943 in den Midlands Zirkusleute, die von einem griechischen Rom erzählten, der den Bemühungen der Nazis entkommen sei, alle „Zigeuner“ zu „lähmen“ [paralyse], damit sie keine Kinder bekommen könnten.11University of Liverpool Library, Liverpool, Special Collections, Gypsy Lore Society Archives, GLS XLIV/123, Edward Harvey, „Masterless Men. Some Aspects of English Nomadism in 1943” (Unveröffentlichtes Manuskript), 31. Im Gegensatz dazu beschrieb Frederick Cowles (1900–1949) den Rom und Soldaten Jim Cooper (1920–1942), der gesagt haben soll: „Ich nehme an, dass Zigeuner auf der anderen Seite kämpfen, und das Töten der eigenen Leute ist ein mieses Spiel“, woraufhin Cowles Cooper erklärt habe, dass „die andere Seite“ dabei sei, Sinti:ze und Rom:nja zu ermorden.12Cowles, „Studies of British and Foreign Gypsies”, 30.
Der bekannteste Ausdruck einer individuellen Reaktion von Rom:nja auf den Völkermord ist der des walisischen Rom Manfri Frederick Wood (unbekannt–unbekannt). Er nahm an der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen teil, wahrscheinlich als Mitglied einer Sanitätereinheit der 6. Luftlandedivision,13TNA WO 176/360 Medical Diaries 6 Airborne Division June 43 to June 46, Eintrag für den 13. April; vgl. https://www.belsen.co.uk/major-harold-daintree-johnson-224-parachute-field-ambulance/. und erinnerte sich: „Als ich die überlebenden Roma sah, dazwischen die kleinen Kindern unter ihnen, war ich fassungslos. Dann ging ich hinüber zu den Öfen und fand auf einer der Eisenbahren die halb verkohlte Leiche eines Mädchens. Eine entsetzliche Minute dauerte es, da war mir klar, was sich hier abgespielt hatte.“14Kenrick und Puxon, Sinti und Roma, 139 (vgl. Kenrick und Puxon, The Destiny of Europe’s Gypsies, 187). Seine Kriegserfahrungen wurden jedoch erst in den späten 1960er Jahren aufgezeichnet, als er als Präsident des neu gegründeten British Gypsy Council an den Bemühungen um den Aufbau einer Gypsy Servicemen‘s Association und der Entwicklung von Gedenkpraktiken beteiligt war.
Das Wissen der britischen Öffentlichkeit über Verfolgung und Völkermord
Es gibt aussagekräftige Belege dafür, was die britische Öffentlichkeit wissen und wie sie vom Völkermord erfahren konnte; die wenigen Belege dafür, wie sehr sie sich dafür interessierte, deuten auf eine Reihe selektiver Sichtweisen hin. Menschen, die sich für „Gypsies“ und die „Gypsy question [Zigeunerfrage]“ interessierten, wie die Mitglieder der Gypsy Lore Society Yates, Harvey und Cowles, widmeten wohl der Verfolgung besondere Aufmerksamkeit, aber auch die breitere Leserschaft konnte bereits 1936 in der britischen Presse Hinweise darauf finden. In jenem Jahr berichteten britische Zeitungen über Diskussionen bezüglich des Status der Sinti:ze und Rom:nja im Rahmen der Nürnberger Gesetze in Deutschland, über lokale Initiativen zur Kürzung von Sozialleistungen und zum Arbeitszwang für „Zigeuner“, über den Erlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage vom 6. Juni 1936 und über die Verbringung von Rom:nja in das Zwangslager Berlin-Marzahn.15„Work Shy Gypsies”, Manchester Evening News, 18. März 1936; „Two-Year Sentence for Possessing Foreign Bank Notes”, Evening Standard, 28. Mai 1936; „Germans Make War on Gipsy Plague”, Evening Standard, 19. Juni 1936; „Gipsies not Wanted”, Evening Standard, 17. Juli 1936. Die Leser:innen des „Daily Express“ erfuhren im April 1937, dass der Deutsche Bauernverband die Ausweisung aller „Zigeuner, die‚ wie die Juden, ein nicht-arisches Volk sind“, forderte.16„Expel gipsies”, Daily Express, 9. April 1937. Die „Times“, der „Observer“ und der „Daily Express“ informierten ihre Leser:innen über Himmlers Runderlass vom 8. Dezember 1938.17„Nazis to abolish ‘un-Aryan’ gipsies”, Daily Express, 16. Dezember 1938; „Outcasts”, The Times, 15. Dezember 1938; „The Gypsies of Germany”, The Observer, 18. Dezember 1938.
In den 1930er Jahren gab es nur sehr wenige Reaktionen in den Redaktionen oder bei den Leser:innen auf Nachrichten über die Verfolgung, und diese wurden meist neutral und manchmal sogar scherzhaft formuliert. In derselben Ausgabe des „Daily Express“, in der über Himmlers Dekret von 1938 berichtet wurde, wurde in der regelmäßigen Kolumne „Warum und wozu“ gefragt: „Ich sehe, dass Deutschland beginnt, die Zigeuner zu ‚eliminieren‘. Warum nennen wir diese Menschen Zigeuner?“18„Why and wherefore?” Daily Express, 16. Dezember 1938. Anders als die meisten Presseberichte zum Thema waren die Berichte von „Observer“ und „Times“ über Himmlers Runderlass relativ lang und wurden von ausführlichen Kommentaren begleitet; beide kritisierten die deutsche Politik und bewahrten gleichzeitig einen ironischen Abstand. Nach einer knappen Darstellung der Verordnung zur rassistischen Erfassung der Sinti:ze und Rom:nja gab der Reporter des „Observer“ einen Überblick über die Geschichte der „Zigeuner“ in Europa und schloss mit den Worten: „Hier, in Großbritannien, sind wir inzwischen zu sehr an den Wohnwagen auf der Heide und das dunkle Volk am Lagerfeuer gewöhnt, als dass wir uns wünschen würden, das Zigeunerunwesen zu bekämpfen oder anti-ägyptische Gesetze wieder in Erinnerung zu rufen, die glücklicherweise längst vergessen sind.“19„The Gypsies of Germany”, The Observer, 18. Dezember 1938. Die „Times“ schloss ihre Meldung mit einem langen und stark ironischen Leitartikel ab, der zu dem Schluss kam: „[D]ie Nazis haben zweifellos ihre eigenen guten Gründe dafür, ein strenges Auge auf die Zigeuner zu werfen … [V]ielleicht sind sie der Meinung, dass gute Deutsche in diesen anstrengenden Zeiten in der Gegenwart und für die Gegenwart leben sollten; es geht nicht an, dass eine Menge Vagabunden herumlaufen und die Zukunft voraussagen.“20„Gypsies and Warnings”, The Times, 28. Dezember 1938.
Während des Krieges erhielten die britischen Leser:innen aus vielen Teilen Europas (nicht immer zutreffende) Informationen über Entwicklungen und Ereignisse. Dazu gehörten Berichte aus Rumänien über Aufrufe zur Segregation der Rom:nja Anfang 1941 und den Befehl zu ihrer Ausweisung im Oktober 1942. Ebenfalls im Jahr 1942 zählten Rom:nja zu den gemeldeten Opfern deutscher Vergeltungstötungen in Serbien (März). Es wurde berichtet, dass deutsche Sinti:ze und Rom:nja gezwungen werden könnten, Erkennungszeichen zu tragen und „in Siedlungen zu arbeiten“ (Juni), und Reuters meldete im September, dass zwischen dem Anschluss und dem Ausbruch des Krieges alle männlichen Roma in Österreich sterilisiert worden seien.21„Segregation of Gipsies”, The Observer, 19. Januar 1941; „Gypsies must go”, Sunday Express, 18. Oktober 1942; „A crime to remember against Hitler”, Sunday Express, 22. März 1942; „Nazis now attacking Gypsies”, Daily Telegraph, 20. Juni 1942; „Blood bath of all dark-haired Poles”, Sunday Express, 27. September 1942. Im Juni 1943 sagte das „Aberdeen Press and Journal“ unter Berufungauf deutsche Quellen „eine deutsche Kampagne gegen 800 000 Zigeuner in Ungarn, Serbien und Rumänien” voraus, „ähnlich der gegen die Juden“, während ein relativ langer Artikel im „Daily Mirror“ berichtete, „in Rumänien, in Deutschland selbst und in Jugoslawien sind Zehntausende von Zigeunern verhungert oder massakriert worden“. Im November 1943 berichtete der Korrespondent des „Daily Telegraph“ aus dem befreiten Kyjiw, dass die Verfolgung der Rom:nja durch die deutschen Besatzer:innen allgemein bekannt sei.22„Gypsies Next on Nazi List”, Press and Journal, 16. Juni 1943; T.V. Guerter, „King of Gipsies Declares ‚Holy War’ on Nazis”, Daily Mirror, 17. Juni 1943; „Kiev Terror ‚Indelible Stain on Germany’“, Daily Telegraph, 29. November 1943.
Unmittelbar nach dem Krieg wurde in der ausführlichen Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse regelmäßig auf die Anklageschrift verwiesen, in der „Zigeuner“ zu den Opfern des Völkermords gezählt wurden.23Zum Beispiel: „The Nuremberg Calendar”, Daily Express, 19. Oktober 1945. Über den Ravensbrück-Prozess, der in Hamburg vor einem britischen Militärgericht stattfand, wurde ausführlich berichtet, unter anderem über das Leiden von Frauen und Mädchen, die als Sintize oder Romnja Sterilisierungsversuchen unterzogen worden waren.24„Nazi Cruelty to Women”, The Times, 6. Dezember 1946; „Gypsies Writhed after Nazi Experiments”, Grimsby Evening Telegraph, 18. Dezember 1946; „Manacled Woman’s 2-Day Fast”, Manchester Evening News, 20. Dezember 1946; „Atrocities at Ravensbrück”, The Times, 2. Januar 1947. Sowohl in der regionalen als auch in der überregionalen Presse wurde 1946 über den Hamburger Ärzteprozess berichtet (siehe unten), und einige der Zeugenaussagen ausführlich beschrieben, wobei deutlich gemacht wurde, dass es sich bei den Sterilisationsopfern um Sinti:ze und Rom:nja handelte.25„Case against S.S.”, Lancashire Daily Post, 9. November 1946; „Trial of German Doctors”, The Times, 3. Dezember 1946; „German Doctors Sentenced”, The Times, 9. Dezember 1946; „Nemesis Overtakes the War Criminals”, The Sphere, 14. Dezember 1946. In Berichten über die Migration slowakischer Rom:nja in die westliche Tschechoslowakei und die Prozesse gegen serbische und kroatische Kollaborateure im Jahr 1946 wurde die Verfolgung von Rom:nja während des Krieges als Teil des Kontextes genannt.26„Gypsies Return to Bohemia”, The Times, 8. Oktober 1946; „Belgrade Trial”, The Times, 22. Juni 1946; „Archbishop of Zagreb’s Defence”, The Times, 9. Oktober 1946. Und im März 1950 konnten Radiohörer:innen der deutschen Pazifistin Gertrud Luckner (1900–1995) folgen, die beschrieb, wie sie unter Anwendung der Prinzipien der „Selbsthilfe“, die sie in Großbritannien gelernt hatte, zu einem Netzwerk beigetragen hatte, das „Zigeunern, Juden, ‚nicht-arischen Christen‘ und anderen Opfern“ half.27Radio Times, 17. März 1950: 31; BBC Written Archives Centre, Caversham: Gertrud Luckner, „Organised Oppression and Improvised Help” (Mitschrift, Typoskript).
Vor, während und nach dem Krieg war das Interesse der Medien am Schicksal der Sinti:ze und Rom:nja jedoch uneinheitlich, und die selektive Sichtweise nicht nur der Medien, sondern auch britischer Einzelpersonen zeigt sich sehr deutlich in den Zeugenaussagen im Zusammenhang mit der Befreiung von Bergen-Belsen und dem Prozess gegen das Lagerpersonal, an denen britische Akteur:innen beteiligt waren. Die Zeugenaussage des jüdischen Arztes Charles Bendel (1914–unbekannt) im Belsen-Prozess über die Situation der Sinti:ze und Rom:nja in Auschwitz-Birkenau wurde von einem Großteil der regionalen Presse aufgegriffen, aber von den wichtigsten großstädtischen Zeitungen nicht behandelt.28Vgl. Joskowicz, Rain of Ash, 259. Der „Guardian”, die „Times”, der „Daily Telegraph”, der „Evening Standard” und der „Daily Express” berichteten nur über Bendels Aussagen über seine Arbeit in den Gaskammern. Sein Bericht über Abschnitt BIIe erschien in Zeitungen in Liverpool, Birmingham, Leicester, Coventry, Derby, Lincoln, Manchester, Nottingham, Plymouth, Torquay, Stoke on Trent, Aberdeen, Dundee, Leeds, Stafford, Hartlepool und Tynemouth. Eine typische Schlagzeile lautet: „Doctor Tells of Gas Chamber Horrors. Experiments Tried on Gypsies”, Evening Express (Liverpool), 1. Oktober 1945. Eine weitere Erwähnung von Rom:nja findet sich in „How did Irma Greese get like this?”, Daily Express, 16. November 1945. Die zwei bekanntesten Teilnehmer an der Befreiung Bergen-Belsens, die Berichte über ihre Erfahrungen veröffentlichten, waren der Kommunikationsoffizier Derrick Sington (1908–1968) und der jüdische Seelsorger Leslie Hardman (1913–2008). Beide beschreiben das von den Briten angeordnete Abbrennen der letzten Baracke des ehemaligen KZ-Lagers am 21. Mai 1945, aber nur Hardman berichtet von der Anwesenheit „ungarischer Zigeuner“. Sie seien „mehr als jede andere Gruppe der Sterilisation unterworfen“ gewesen und „spürten, wie sich die Grenzen eines anderen Gefängnisses um sie herum schlossen“, als sie aufgefordert wurden, sich mit ihren Zelten aus der Gefahrenzone zu begeben.29Hardman, The Survivors, 74. Abgesehen von den Berichten von Hardman und Manfri Frederick West habe ich nur ein einziges veröffentlichtes oder unveröffentlichtes Zeugnis der britischen Befreier gefunden, in dem Sinti:ze und Rom:nja in Bergen-Belsen nicht lediglich als Mitglieder einer Häftlingsgruppe erwähnt werden: Die britischen Medizinstudenten, die dort eine Schlüsselrolle spielten, waren vielleicht am ehesten in der Lage, die Überlebenden als Individuen zu sehen, und das medizinische Tagebuch eines von ihnen, Peter John Horsey (1924–2015), berichtet von seiner aufmerksamen Pflege „eines polnischen Zigeuners“, der „schon ziemlich am Rande“ war und nicht überlebte.30Imperial War Museum, London, Documents.1345, Private Papers of Dr. P. J. Horsey, Typoskript Tagebuch, 7–9. Zu den Beobachtungen eines Kanadiers, der bei den britischen Streitkräften diente, siehe https://www.thetyphoonproject.org/439/Victor%20Henry%20John-Le%20Gear.html, und vgl. Celinscak, Distance from the Belsen Heap, 108.
Britische Staatsmänner, Politiker und Geheimdienstmitarbeiter
Vor und während des Zweiten Weltkrieges hatten britische Staatsmänner, Politiker und Geheimdienstoffiziere Gelegenheit, sich über die Verfolgung der Rom:nja zu informieren, auch wenn sie nicht die Tagespresse lasen. Der von der Regierung angeordnete und 1939 veröffentlichte Bericht über die Behandlung deutscher Staatsangehöriger in Deutschland enthielt Aussagen von zwei ehemaligen Buchenwald-Häftlingen, die die Anwesenheit von „Zigeunern“ unter den Häftlingen erwähnten.31Papers Concerning the Treatment of German Nationals in Germany 1938–1939, 10, 11. Zu den Presseberichten, die sich auf die Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja bezogen, gehörten Artikel in der in London erscheinenden Flüchtlingszeitung „Die Zeitung“. Darunter befand sich auch der Bericht eines jugoslawischen Flüchtlings vom März 1943, demzufolge die Rom:nja in Deutschland, seinen Satellitenstaaten und den besetzten Gebieten „fast vollständig ausgerottet“ worden waren. „Die Zeitung“ wurde vom britischen Informationsministerium herausgegeben und es ist anzunehmen, dass ihr Inhalt wenigstens einzelnen Mitarbeitenden im Ministerium bekannt war.32„Ende der Zigeunerromantik”, Die Zeitung, 25. März 1943. Siehe auch „Verseuchtes Europa”, Die Zeitung, 2. Oktober 1942; „Zigeuner als Kriegsarbeiter”, Die Zeitung, 19. Mai 1944. Es war nicht möglich, die Autoren der Artikel zu identifizieren. Zur Geschichte der Publikation siehe Sternfeld, „Die Zeitung: A London Journal 1941–1945”, 6; Vinzent, „Exilpresse digital in Support of Researching Visual Material: Images in Die Zeitung”; TNA HO 215/439, Distribution of Die Zeitung. Und zwei der wichtigsten Berichte über Auschwitz, die aus polnischen Quellen stammten, enthielten Informationen über die Anwesenheit und die Lebensumstände von Sinti:ze und Rom:nja in dem Lager: Ende August 1943 erhielt die Special Operations Executive (SOE) einen Bericht des Nachrichtendienstes der polnischen Heimatarmee über das „Lager in Oświęcim“, in dem es hieß: „Die Massenexekutionen von Zigeunern haben begonnen. Der erste Transport mit etwa eintausend Personen wurde vergast“.33TNA HS 4/210, SOE Polen 100, German Policy in Poland in July 1943. Im Januar 1944 erhielt der polnische Geheimdienst in London eine Zusammenstellung von drei Augenzeugenberichten über die Zustände in Auschwitz, die im Sommer zuvor verfasst worden waren; zwei dieser Berichte beschrieben die Situation der Insass:innen des „Zigeunerlagers“ (d. h. des Lagerabschnitts BIIe in Auschwitz-Birkenau): Im Juni wurde berichtet, dass im Laufe des Jahres 1943 etwa 10 000 Sinti:ze und Rom:nja in Auschwitz-Birkenau eingetroffen waren und dass die „wahllose“ Vergasung der Sinti:ze und Rom:nja begonnen hatte. Von den Neuankömmlingen aus Frankreich und Griechenland Mitte 1943 sollen etwa 20 Prozent Sinti:ze und Rom:nja gewesen sein. Und im Juli wurde über einen Ausbruch von Typhus in Lagerabschnitt BIIe berichtet.34Archiwum Akt Nowych, Warschau, 1325 202/III/139, 238–48: Beschreibung des KL Lagers Auschwitz. Die Zusammenstellung wurde zunächst an amerikanische Stellen weitergeleitet, aber die Informationen wurden in verschiedenen Formen weit verbreitet, und obwohl keine Kopie in britischen Archiven erhalten ist, scheint es unwahrscheinlich, dass sie nicht vom britischen Geheimdienst gesehen wurde.35Zur Verbreitung des Berichts siehe zuletzt Fleming, Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, 200–208.
Die Zurückhaltung der alliierten Behörden, auf frühe Informationen über Auschwitz zu reagieren, ist hinlänglich bekannt, und es gibt kein Indiz dafür, dass irgendeiner der Offiziere, die diese Berichte lasen, direkt auf die Nachrichten über die Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja reagierte oder konkrete Maßnahmen zu deren Gunsten ergriff.36Fleming, Auschwitz, und Michael Fleming, persönliche Mitteilung an die Autorin, 31. August 2023. Zwar versuchte das SOE in anderen Fällen, mit verschiedenen Gruppen in Europa zusammenzuarbeiten, die sich der deutschen Besatzung widersetzten, doch die Vermutung von Jan Yoors (1922–1977), der britische Geheimdienst habe hinter den Bemühungen gestanden, den Widerstand der französischen Sinti:ze und Rom:nja zu mobilisieren, kann nicht bestätigt werden.
Nach dem Krieg: Britische Kriegsverbrecherprozesse
Die Befreiung der Lager und die anschließenden Prozesse waren die erste direkte Begegnung einer bedeutenden Anzahl von Vertreter:innen des britischen Staates mit den Beweisen für den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja oder mit dessen Opfern. Der Hamburger Ärzteprozess (Hans Hinselmann und Konsorten), der im Dezember 1946 vor einem britischen Militärgericht stattfand, ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil es sich um die erste – und erste erfolgreiche – Ahndung von rassistisch motivierten Verbrechen an Sinti:ze und Rom:nja (Zwangssterilisation) handelte. Bemerkenswert ist auch die Haltung der britischen Behörden, die ein hohes Maß an Sympathie für die Überlebenden zeigten und sich des Charakters der Verfolgung bewusst waren. Die Entscheidung, die Sterilisationen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen, wurde von den Brit:innen wahrscheinlich als Reaktion auf die laufenden Ermittlungen gegen einen der Mitangeklagten von Hinselmann getroffen: Kurt Krause (1888–1954), ein Beamter der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ der Hamburger Kriminalpolizei, war wegen seiner führenden Rolle bei den Deportationen von 1940 und 1943 angeklagt worden; im Ärzteprozess wurde er verurteilt, weil er die Opfer gezwungen hatte, einer Sterilisation zuzustimmen.37Repplinger, „Hat sich besondere Kenntnisse in der Bearbeitung des Zigeunerunwesens erworben.” Von den Ermittlungen und dem Prozess im Fall Hinselmann ist kein vollständiges Protokoll erhalten geblieben.
In seiner Urteilsbegründung wies der Vorsitzende Richter, Oberst Herbert Bown (1887–1964), nicht nur die Behauptung der Angeklagten zurück, auf Befehl gehandelt zu haben, und die Behauptung der Verteidiger, das Kontrollratsgesetz Nr. 10, nach dem sie angeklagt waren, sei unrechtmäßig, da es rückwirkend auf vergangenes Handeln angewendet werden solle. Bown wandte sich auch direkt gegen die Bemühungen der Verteidigung, die Aussagen der Rom:nja zu delegitimieren: „Allgemein gesprochen waren jedoch diese Zigeunerzeugen als Tatzeugen äußerst eindrucksvoll. Sie schienen trotz ihrer Leiden die Tatsachen ganz leidenschaftslos zu bekunden. Wo immer dies möglich war, sprachen sie nur gut von den Angeklagten […] Unter diesen Zeugen befand sich eine arme Frau, die nicht Lesen oder schreiben konnte, und Leute, die offenbar mit dem Leben gut fertig werden, und imstande sind, sich durchzusetzen. Das hat auf das Gericht einen guten Eindruck gemacht, und es glaubt, dass jedes Land stolz sein könnte, diese Menschen als Staatsbürger zu haben … Es ist unglaublich, dass zu dieser Zeit, als sich Deutschland in Not befand und jeder schon genau wusste, dass der Krieg verloren war, Menschen nur deshalb, weil sie Zigeuner waren, von der Front zurückgebracht worden sind, um sterilisiert zu werden, verstümmelt zu werden, und ihre Familien leiden zu sehen.“38Staatsarchiv Hamburg 131-11 1982, Disziplinarverfahren Hans Hinselmann, Urteilsbegründung; auch in Staatsarchiv Hamburg 221-11 P13797, Entnazifizierungsakte Krause.
Ungewohnterweise schenkte das Gericht den Opferzeug:innen auch dann Glauben, wenn ihre Aussagen wenig plausibel schienen oder in Einzelheiten widersprüchlich waren, was von einem Verständnis für die Lebensumstände der überlebenden Sinti:ze und Rom:nja zeugt. Die gegen Hinselmann verhängte Geldstrafe von 100 000 Mark wurde auf Anweisung von Bown als Entschädigung an die Opfer verteilt.39Staatsarchiv Hamburg 351-11 49356, Wiedergutmachungsakte A.S., Strafverfolgungsabteilung, Militärregierung, Hamburg an Richter Bown, 30. Juli 1947.
Die Dutzenden von einfachen britischen Männern und Frauen in Uniform, die an der Untersuchung und Verfolgung von Kriegsverbrechen beteiligt waren, werden also Wissen über den Völkermord mit nach Hause gebracht haben, auch wenn nicht festgestellt werden kann, wie weit dieses Wissen zirkulierte.
Frühe Dokumentation des Völkermordes
Britische Organisationen und Einzelpersonen waren schon relativ früh aktiv an der Dokumentation des Völkermords an den Sinti:ze und Rom:nja beteiligt. Dazu gehörten die Gypsy Lore Society und die Wiener Library. Die Wiener Library, die Dr. Alfred Wiener (1885–1964) 1933 in Amsterdam als Jewish Central Information Office gegründet hatte, zog 1939 nach London um. Obwohl ihr Schwerpunkt auf der Dokumentation jüdischen Lebens und der Erforschung des Nationalsozialismus lag, begannen ihre Mitarbeiter:innen in den 1940er Jahren Daten über die Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja und ab 1957 systematisch mündliche Zeugnisse von Überlebenden dieser Opfergruppe zu sammeln. Ab 1950 berichtete das „Wiener Library Bulletin“ über die Verfolgung und deren Auswirkungen.40Joskowicz, Rain of Ash, 155–56; „How the Gipsies were Persecuted”, 18; Adler, „How the Gipsies were Persecuted”, 36; „Gypsies in the Third Reich”.
Zu den wichtigen Beiträgen der Wiener Library gehörte die Förderung der Forschungen von Donald Kenrick und Grattan Puxon. Kenrick kam als Kommunist, sozialer Aktivist und Sprachwissenschaftler zu Romani-Studien und politischer Lobbyarbeit. Puxon wurde nach seiner Übersiedlung von England nach Irland im Jahr 1960 zu einem Vollzeitaktivisten für die Rechte der Gypsies und Travellers. Bevor er nach England zurückkehrte, wurde er auf Einladung von Ionel Rotaru (geb. unbekannt) Mitglied der Exekutive der Communité Mondiale Gitane (später Comité Internationale Rom oder International Rom Committee, IRC). Kenrick und Puxon lernten sich bei Aktionen gegen die Vertreibung englischer Travellers kennen und spielten eine Schlüsselrolle bei der Gründung des British Gypsy Council 1966, dessen Sekretär Puxon wurde.41Acton, „Introduction”; Puxon, „The Romani movement: rebirth and the first World Romani Congress in retrospect”, 94–113. Auf Anregung des IRC-Sekretärs Jacques Dauvergne (alias Vanko Rouda) (1936–unbekannt) begannen sie, Beweise zu sammeln, um die Entschädigungsansprüche der europäischen Sinti:ze und Rom:nja als Opfer des Holocaust zu unterstützen, und wurden Mitglieder der IRC-internen Kommission für Kriegsverbrechen. Als die Wiener Library 1967 Forschungsgelder ausschrieb, bewarben sich Kenrick und Puxon erfolgreich, was ihnen ermöglichte, ihre Archiv- und Oral-History-Forschung in Europa auszuweiten und Kontakt zu kontinentalen Forschern wie Reimar Gilsenbach (1925–2001), Miriam Novitch (1908–1990) und Milena Hübschmannová (1933–2005) aufzunehmen. Das Ergebnis war der Band „The Destiny of Europe’s Gypsies“, der 1969 fertiggestellt und 1972 veröffentlicht wurde (deutsche Ausgabe 1981), und eine der ersten zusammenfassenden Darstellungen des Völkermords an den Rom:nja war. Darin wird der nationalsozialistische Völkermord in den Kontext der Geschichte des Antiziganismus gestellt und das Fortbestehen von Vorurteilen und Diskriminierung nach 1945 betont.42Acton, „Introduction”, xxiii; Grattan Puxon, persönliche Mitteilungen an die Autorin, 16. und 18. Juli 2023; Wiener Holocaust Museum, London, Donald Kenrick Papers; Bishopsgate Institute, London, Grattan Puxon Papers, PUX/422.
Gedenken
Die Tatsache, dass dieselben Personen an der Gründung des IRC und des Gypsy Council beteiligt waren, und insbesondere der entschlossene Internationalismus von Grattan Puxon trugen zur Verbreitung eines Holocaust-Bewusstseins unter britischen Gypsies und Travellers bei. Angeregt durch die Ratschläge und Aktionen anderer IRC-Mitglieder organisierte Puxon die erste Veranstaltung zum Gedenken an den Völkermord an den Sint:ze und Rom:nja in Großbritannien: Am 17. Dezember 1967, dem fünfundzwanzigsten Jahrestag von Himmlers Auschwitz-Erlass, fand in der Friends‘ Hall in Bethnal Green (London) ein Treffen unter der Schirmherrschaft des Gypsy Council statt. Die Veranstaltung endete mit der feierlichen Verbrennung eines Zeltes auf dem anliegenden Gelände.43Bishopsgate Institute, London, Grattan Puxon Papers, PUX/84; Grattan Puxon, persönliche Mitteilung an die Autorin, 16. Juli 2023.
In der britischen Gesellschaft wurden in den 1990er Jahren verstärkt nationale Initiativen zur Verbreitung des Wissens über den Holocaust und zur kontinuierlichen Pflege des Gedenkens ergriffen. 1988 wurde ein Holocaust Educational Trust gegründet, der bald eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von Lehrer:innen spielte, da der nationale Lehrplan ab 1991 den Unterricht über Nazi-Deutschland und den Holocaust im 9. Schuljahr vorschrieb. Nach dem Erfolg einer Ausstellung über die Befreiung von Bergen-Belsen begann das Imperial War Museum 1994 mit der Planung einer eigenen Holocaust-Galerie. Im Jahr 2000 wurde der 27. Januar als nationaler Holocaust-Gedenktag gesetzlich verankert und eine von der Regierung finanzierte Bildungsstiftung (Holocaust Memorial Day Trust) gegründet. Die konservative Regierung, die 2010 ihr Amt antrat, verpflichtete sich, die Holocaust-Erziehung weiter zu fördern, und initiierte 2015 ein Projekt für ein Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Parlamentsgebäudes.44Pearce, Holocaust Consciousness in Contemporary Britain; Britain’s Promise to Remember.
In ihrer ursprünglichen Konzeption konzentrierten sich all diese Initiativen auf die jüdische Erfahrung von Leid, Überleben und Rettung. In den späten 2000er Jahren wurde der Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja als Thema in die Arbeit der meisten einschlägigen Institutionen aufgenommen, mit Gedenk- und Bildungsveranstaltungen und Internet-Postings, die zeitlich mit dem Holocaust-Gedenktag (27. Januar), dem Europäischen Holocaust-Gedenktag für die Roma (2. August), dem Internationalen Roma-Tag (8. April) oder dem britischen Gypsy Roma Traveller History Month (seit 2008 der Monat Juni) zusammenfallen. Als das Imperial War Museum seine Holocaust-Galerie neu gestaltete (Wiedereröffnung 2021), wurden umfangreiche Anstrengungen unternommen, die Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja anhand von konkreten Beispielen in die Darstellung zu integrieren.
Im Jahr 2023 hatte die britische Regierung jedoch immer noch nicht die Empfehlungen des Europarats zum Unterricht über die Geschichte des Völkermords an den Sinti:ze und Rom:nja in den Schulen umgesetzt. Darüber hinaus war der Plan für ein Holocaust-Mahnmal die einzige öffentliche Initiative, die Forderungen der Rom:nja nicht berücksichtigte. Die 2014 eingesetzte beratende Holocaust-Kommission des Premierministers ging zwar über ihr ursprüngliches Mandat hinaus und bestand darauf, dass die Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja sowie anderen nicht-jüdischen Opfern in die Bildung und das Gedenken einbezogen werden sollte, aber weder in diesem Gremium noch in der mit der Durchführung des Mahnmalprojekts beauftragten Stiftung waren Rom:nja vertreten. In den 2020er Jahren war dies immer noch Gegenstand öffentlicher Proteste und rechtlicher Anfechtungen durch Organisationen der Communitys, auch wenn einige Rom:nja aktiv an dem Gedenkstättenprojekt teilnehmen.45Britain’s Promise to Remember; „It’s August 2nd and the Roma Holocaust continues, say Drive2Survive”, Travellers Times, 2. August 2021 (https://www.travellerstimes.org.uk/features/its-august-2nd-and-roma-holocaust-continues-say-drive-2-survive, Zugriff: 06.01.2024); Bishopsgate Institute, London, Grattan Puxon Papers, PUX/387. Vgl. https://www.romaniarts.co.uk/commemorating-roma-sinti-victims-of-nazi-persecution/ [Zugriff: 06.01.2024].
Die hier beschriebenen positiven institutionellen Entwicklungen spiegeln zwar die Fortschritte in der wissenschaftlichen Forschung und im allgemeinen Wissen über den Völkermord an den Sinti:ze und Roma wider, doch es waren die Stimmen der britischen Rom:nja, die häufig vom Gypsy Council vertreten werden, die an entscheidenden Punkten ausschlaggebend waren.46„Gypsy Council wins victory in the fight for more rights and recognition of the Roma Holocaust”, Travellers Times, 11. August 2016 (https://www.travellerstimes.org.uk/news/2016/08/gypsy-council-wins-victory-fight-more-rights-and-recognition-roma-holocaust, Zugriff: 05.01.2024). Nach 2010 führten Generationswechsel und demografische Veränderungen zu neuen Initiativen der britischen Rom:nja – und einer dynamischen Interaktion zwischen lokalen und internationalen Projekten. Zuwanderer:innen aus Ost- und Mitteleuropa brachten generationenübergreifende Erinnerungen und Gedenktraditionen mit, während junge britische Gypsies und Travellers sich zunehmend in paneuropäischen Initiativen wie TernYpe und Dikh He Na Bister engagierten. Gleichzeitig erinnert die wiederholte Verunstaltung einer von der Organisation Romano Lav geschaffenen Gedenkstätte in Glasgow im Jahr 2019 daran, dass in Großbritannien wie in ganz Europa die Erfahrungen von Krieg, Völkermord und Wiederaufbau nicht zu einem Ende von Vorurteilen und Diskriminierung geführt haben. Im Jahr 2010 wurden Gypsies, Rom:nja und Travellers rechtlich zu geschützten ethnischen Gruppen erklärt. Im Jahr 2016 wurde festgestellt, dass sie die am stärksten benachteiligten Gruppen in England sind.47https://www.glasgowtimes.co.uk/news/20174274.roma-holocaust-memorial-glasgows-queens-park-vandalised/ [Zugriff: 06.01.2024]; Englands am meisten benachteiligte Gruppen: Gypsies, Travellers and Roma (https://www.equalityhumanrights.com/sites/default/files/is-england-fairer-2016-most-disadvantaged-groups-gypsies-travellers-roma.pdf, Zugriff: 06.01.2024).