Mit einem Runderlass vom 11. September 1940 wies der Polizeichef Arturo Bocchini (1880–1940) alle Präfekten des Königreichs Italien an, „die sich noch im Umlauf [in circolazione] befindenden ‚Zigeuner‘ mit feststehender oder vermutlicher italienischer Staatsbürgerschaft“ aufzuspüren und sie in jeder Provinz in einem zu ihrer Überwachung geeigneten Ort „zu konzentrieren“.1Archivio Centrale dello Stato (ACS) [Zentrales Staatsarchiv], Ministero degli Interni (MI) [Ministerium für Inneres], Gabinetto [Büro des Ministers], Ufficio cifra [Chiffrestelle], Telegrammi in partenza, da Capo della polizia a prefetti Regno e questore Roma [ausgehende Telegramme, von Polizeichef an Präfekten des Königsreichs und an Polizeipräsident Rom], Circolare telegrafica della Divisione polizia amministrativa e giudiziaria (Sezione III) [telegraphischer Runderlass der Verwaltungs- und Kriminalpolizei (III. Sektion)], n. 63462 dell’11 settembre 1940 [11.09.1940]. Der zu diesem Zweck ausgewählte Ort sollte fern von Fabriken, Sprengstofflagern, Bauwerken von militärischem Interesse und Truppenansammlungen gelegen sein. Die Präfekten der Grenzprovinzen ließen daher in ihren Gebieten keine Internierungsorte errichten und überführten die in ihrem Zuständigkeitsbereich festgenommenen Rom:nja und Sinti:ze in andere Provinzen oder in Konzentrationslager (campi di concentramento). Als Internierungsorte wurden abgelegene, oft schwer erreichbare kleine Kommunen gewählt.
Festnahmen und Überführung in Kommunen
Bis zum 13. Januar 1941 wurden 878 Rom:nja und Sinti:ze festgenommen. 534 von ihnen wurden in den von den Präfekten bestimmten Ortschaften interniert, die übrigen 344 in die Kommunen überführt, in denen sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Die Anzahl der internierten Rom:nja und Sinti:ze stieg im Laufe des Jahres 1941 ein wenig an, um dann kontinuierlich zu sinken. Im Sommer 1943 gab es nur noch zwei Internierungsorte. Mit der Internierung war es für die meisten Sinti:ze und Rom:nja nicht mehr möglich, ihre bisherigen Berufe zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes auszuüben, da diese eine gewisse Bewegungsfreiheit voraussetzten.
Lebensbedingungen
Die Internierung in Kommunen betraf verschiedene ‚Kategorien’ von Internierten. Studien zur Gesamtzahl der Internierten liegen nicht vor, lediglich zu einzelnen Provinzen gibt es Erkenntnisse über die dort internierten Juden:Jüdinnen. Wenn die internierte Person über keine Eigenmittel verfügte oder es ihr nicht gelang, an dem Ort, in dem sie zwangsweise leben musste, eine Arbeit zu finden (Juden:Jüdinnen war eine Erwerbstätigkeit fast immer untersagt), war die Auszahlung eines Tagegelds vorgesehen. Für Rom:nja und Sinti:ze war das Tagegeld niedriger festgesetzt als für alle anderen ‚Kategorien‘ von Internierten und erwies sich selbst für Grundbedürfnisse als völlig unzureichend, auch wegen der hohen Anzahl von Minderjährigen, die den Eltern (oder einem Elternteil) in die Internierung folgen mussten. Das Familienoberhaupt erhielt 5,5 Lire pro Tag plus 1 Lira für die Ehefrau und jedes minderjährige Kind. Der monatliche Zuschuss für die Unterkunft betrug 50 Lire. Um den realen Wert des Tagegeldes einzuschätzen, muss man bedenken, dass man mit 50 Lire im Monat höchstens ein Zimmer mieten konnte, und dass ein Kilogramm Brot 2 Lire kostete, ein Kilo Zucker 6,50 Lire sowie ein Kilo Mehl 1,20 Lire. Für die anderen ‚Kategorien‘ von Internierten waren ebenfalls 50 Lire für die Unterkunft vorgesehen, das Familienoberhaupt erhielt aber 6,5 Lire pro Tag sowie 4 Lire für die Ehefrau.2Capogreco, I campi del Duce, 129.
Daraus lässt sich schließen, dass das Innenministerium Roma und Sinti als eine ‚Kategorie‘ von Internierten betrachtete, die weniger Geldmittel als alle anderen benötigte. Ihre Lebensumstände wurden dadurch weiter erschwert, zumal es keine Anzeichen dafür gibt, dass sie irgendwelche Unterstützung von noch in Freiheit lebenden Angehörigen oder von nationalen oder internationalen Organisationen erhielten.
Zusammenfassung von Sinti:ze und Rom:nja in den Provinzen
Im Allgemeinen war bei der Internierung in Kommunen vorgesehen, dass in den einzelnen Ortschaften jeweils nur eine begrenzte Anzahl von Personen interniert werden sollte, um die Internierten sowohl voneinander als auch von der übrigen Bevölkerung abzusondern. Bei Rom:nja und Sinti:ze wurde dagegen beschlossen, sie auf provinzieller Basis zusammenzuführen, sodass in einigen Kommunen Dutzende von Internierten eintrafen, ohne dass eine geeignete Unterkunft für sie bereitgestellt worden wäre. Oft waren die Kommunen gezwungen, Unterkünfte für Dutzende von Rom:nja und Sinti:ze ausfindig zu machen. Mit der Zeit wurde deutlich, dass das Innenministerium die dafür verauslagten Gelder nie erstatten würde. Dies war einer der Gründe, die dazu führten, dass viele als Internierungsorte bestimmte Kommunen die Rom:nja und Sinti:ze fortziehen ließen, obwohl sie keine entsprechende Weisung erhalten hatten. Sie waren mit deren Versorgung überfordert.
Übersicht über die Internierungen von Sinti:ze und Rom:nja
Die folgende, dem aktuellen Kenntnisstand entsprechende, nicht vollständige Liste ist eine Übersicht über die Anzahl der in den einzelnen Provinzen internierten Rom:nja und Sinti:ze unter Angabe des Internierungsortes, sofern er bekannt ist, und des Zeitraumes der Internierung.3Falls nicht anders angegeben, stammen alle zitierten Daten aus dem ACS, MI, Direzione Generale Pubblica Sicurezza (DGPS) [Generaldirektion Öffentliche Sicherheit], Polizia Amministrativa e Sociale – già Divisione di polizia, sezione III [Verwaltungs- und Sozialpolizei – ehemalige Abteilung Polizei, III. Sektion], b. 221, fasc. Zingari statistica [Mappe Zigeuner Statistik]. Die Liste ist nach Regionen erstellt und folgt einer geografischen Sortierung von Norden nach Süden, um die unterschiedliche Umsetzung der Runderlasse hervorzuheben, je nachdem, ob Sinti:ze (im Norden) oder Rom:nja (im Süden) betroffen waren. Unter dem faschistischen Regime wurde die Anzahl der Provinzen in Italien auf 94 erhöht, Regionen im Sinne von separaten Verwaltungseinheiten gab es damals nicht.
Die höchste Anzahl der in Kommunen Internierten befand sich in Norditalien, und zwar hauptsächlich in den Regionen Emilia-Romagna und Piemont, wo mehrheitlich italienische Sinti:ze lebten. Sie übten hauptsächlich Wandergewerbe aus und verfügten selten über einen amtlichen Wohnsitz. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die infolge des Runderlasses vom 11. September 1940 festgenommenen Rom:nja und Sinti:ze, falls sie einen Wohnsitz oder üblichen Aufenthaltsort hatten, an diese zurückzukehren hatten. In Kommunen wurden nur diejenigen interniert, die bei keinem Einwohnermeldeamt irgendeiner Kommune des Königreichs Italien amtlich gemeldet waren. Dies erklärt die äußerst geringe Zahl an süditalienischen Rom:nja, die in Kommunen interniert wurden, da sie ortsfest lebten.
Piemont
- Turin: Drei in der Kommune Pinerolo internierte Familien (die Gesamtzahl der Familienmitglieder ist nicht bekannt); Juli 1941 bis August 1941.
- Asti: 18 aus Aosta kommende Personen, die in der Kommune Canelli interniert waren; Herbst 1940 bis Frühling 1942.
- Cuneo: 18 Personen, die in der Kommune Bagnasco interniert waren; Herbst 1940 bis Frühling 1944.
- Alessandria: 39 Personen, die in der Kommune Castelnuovo Scrivia interniert waren; 6. November 1940 bis April 1941.4Archivio Storico del Comune di Castelnuovo Scrivia [Historisches Archiv der Kommune Castelnuovo Scrivia], Cat. CC. ECA (1937–1943).
Lombardei
- Mailand: In der Kommune Monza werden die Mitglieder einer in Bozen angehaltenen „Karawane“ interniert (deren Anzahl wird nicht angegeben); November 1940 bis Juli 1943. Im Juli 1943 sucht der Präfekt von Mailand um deren Überführung in ein Konzentrationslager an. Der weitere Verbleib der Menschen ist nicht bekannt.
- Cremona: Elf aus Varese kommende Personen, die in der Kommune Vailate interniert waren; 8. November 1940 bis März 1944.
- Pavia: Acht Internierte in verschiedenen Ortschaften (keine Angabe zu den Namen der Kommunen); 1940 bis unbekannt.
Ligurien
- Genua: 44 Personen, die in der Kommune Torriglia interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt.
Venetien
- Rovigo: Fünf Personen, die in der Kommune Bergantino interniert waren; November 1940 bis zur Flucht am 22. Dezember 1942.
- Verona: 35 Personen, die in der Kommune San Zeno di Montagna interniert waren; November 1940 bis April 1941.5Archivio Storico del Comune di San Zeno di Montagna [Historisches Archiv der Kommune San Zeno di Montagna], Cat. Varie [Kategorie Verschiedenes] 1941–1942, fasc. Categoria 15, Rastrellamento zingari [Festnahme Zigeuner] (1940–1941), documenti vari [verschiedene Dokumente].
- Vicenza: 31 Personen, die in der Kommune Valdastico interniert waren; festgenommen am 30. Mai 1943. Am 11. Juni 1943 versuchten alle zu fliehen, 13 Erwachsene mit Kindern wurden ergriffen und nach Valdastico zurückgebracht. Später wurden sie nach Postumia, das damals zur Provinz Triest gehörte, zurückgeschickt, da sich herausgestellt hatte, dass sie dort Land und Häuser besaßen.
Tridentinisches Venetien
- Trient: 13 Personen, die in der Kommune Castello Tesino interniert waren; Herbst 1941 bis Dezember 1944.6Archivio Storico del Comune di Castello Tesino [Historisches Archiv der Kommune Castello Tesino], Registro delle comunicazioni del 1942 e del 1944 [Register der Mitteilungen von 1942 und 1944].
Julisch Venetien
- Triest: Sechs Personen, die in der Kommune Longera interniert waren; der Zeitraum ist unbekannt.
Emilia-Romagna
- Bologna: 48 Personen, die in der Kommune Savigno interniert waren; Beginn: zwischen September und Oktober 1940, Ende: zwischen November und Dezember 1941.
- Ferrara: 21 Personen, die in der Kommune Berra di Ferrara interniert waren. Am 14. September 1940 festgenommen und in Berra interniert, wurden sie ab Februar 1941 in das Konzentrationslager Bojano überführt, nachdem entdeckt wurde, dass sie die jugoslawische Staatsbürgerschaft besaßen. 20 weitere Personen, ebenfalls in der Kommune Berra di Ferrara interniert; Oktober 1940 bis März 1943.
- Forlì: Acht Personen, die zuerst in der Kommune Rocca San Casciano und später in Rimini interniert waren; Oktober 1940 bis März 1941.
- Modena: 69 Personen, die in der Kommune Prignano sulla Secchia interniert waren;7Ihre Anzahl stieg im Laufe des Jahres 1941 auf 79 an. Archivio Storico del Comune di Prignano sulla Secchia [Historisches Archiv der Kommune Prignano sulla Secchia], schede nominali degli internati [Karteikarten der Internierten]. 11. November 1940 bis März 1943.
- Parma: 21 Personen, die in der Kommune Sorbolo interniert waren; November 1940 bis unbekannt.
- Ravenna: Sechs Personen, die in der Kommune Conselice interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt.
Toskana
- Arezzo: Zehn Personen, die in der Kommune Poppi interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt.
- Pistoia: 19 Personen, die in verschiedenen Kommunen (Tizzana, Agliana, Sambuca Pistoiese, Pieve a Nievole) interniert waren; Oktober 1940 bis unbekannt.
Marken
- Macerata: 17 Personen, die der Kommune Pollenza interniert waren; Herbst 1940 bis April 1941.
Latium
- Frosinone: Eine von der Präfektur Fiume dorthin überführte Frau, die in der Kommune Picinisco interniert war. Nachdem sie am 18. Juni 1942 von Soldaten der Garnison Gerovo festgenommen worden war, kam sie in Fiume (Rijeka) ins Gefängnis und war vom 8. September 1942 bis zu einem unbekannten Datum in der Provinz Frosinone interniert.
- Viterbo: 22 Personen, die in einer nicht genannten Ortschaft interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt. Drei von der Präfektur Triest überführte Personen, die in der Kommune Cellere interniert waren; 31. Mai 1941 bis unbekannt.8ACS, MI, DGPS, Div. polizia, Atti amministrativi e/o fascicoli personali confinati comuni e mafiosi, ammoniti, diffidati politici e comuni dal 1895 al 1945 [Abteilung Polizei, Verwaltungsakten und/oder Personalakten der verbannten Gemeinverbrecher und Mafiosi, Ermahnten, politischen und allgemein Verwarnten von 1895 bis 1954], b. 23, fasc. Zingari [Mappe Zigeuner].
Abruzzen und Molise
- Chieti: Zwei von der Präfektur Mailand überführte Personen, die in der Kommune Rapino interniert waren; am 15. September 1942 in Mailand festgenommen, kamen sie am 8. Januar 1943 in Rapino an; das Ende der Internierung ist unbekannt.9ACS, MI, DGPS, Divisione Affari Generali e Riservati (DAGER) [Abteilung Allgemeine und Geheime Sachen], Kat. A4bis, b. 167, fasc. Hujer.
- Teramo: 18 Personen in der Kommune Teramo, acht Personen in der Kommune Bellante, 15 Personen in der Kommune Tortoreto, drei Personen in der Kommune Atri, 20 Personen in der Kommune Roseto, sechs Personen in der Kommune Sant’Egidio; Herbst 1940 bis unbekannt.
- Campobasso: 53 Personen, die in verschiedenen Ortschaften interniert waren (die Namen der Kommunen sind nicht bekannt); Herbst 1940 bis unbekannt.
Kampanien
- Avellino: Vier Personen, die in der Kommune Prata interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt.
Apulien
- Bari: 24 Personen, die in der Kommune Corato interniert waren; Herbst 1940 bis unbekannt.
Die höchste Anzahl der in Kommunen Internierten befand sich in Norditalien, und zwar hauptsächlich in den Regionen Emilia-Romagna und Piemont, wo mehrheitlich italienische Sinti:ze lebten. Sie übten hauptsächlich Wandergewerbe aus und verfügten selten über einen amtlichen Wohnsitz. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die infolge des Runderlasses vom 11. September 1940 festgenommenen Rom:nja und Sinti:ze, falls sie einen Wohnsitz oder üblichen Aufenthaltsort hatten, an diese zurückzukehren hatten. In Kommunen wurden nur diejenigen interniert, die bei keinem Einwohnermeldeamt irgendeiner Kommune des Königreichs Italien amtlich gemeldet waren. Dies erklärt die äußerst geringe Zahl an süditalienischen Rom:nja, die in Kommunen interniert wurden, da sie ortsfest lebten.