Montreuil-Bellay

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Montreuil-Bellay
  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 17. März 2025

Am 8. November 1941 wurde in Montreuil-Bellay, einer kleinen Stadt im Süden des Departements Maine-et-Loire in der deutsch besetzten Zone Frankreichs, ein Zwangslager (camp d’internement de nomades) mit regionaler Zuständigkeit eingerichtet. Seine Eröffnung war Teil einer umfassenden Umstrukturierung der Lager in Frankreich durch deutsche Behörden, mit der das Zusammenleben von Internierten unterschiedlicher Herkunft an einem Ort verhindert und der Aufwand für Bewachungspersonal verringert werden sollte. Mit insgesamt 2 000 Internierten war Montreuil-Bellay eines der Lager im besetzten Frankreich, in dem die meisten Sinti:ze und Rom:nja untergebracht waren.

Das Lager

Um die vorhandene Infrastruktur zu nutzen, wurde das Lager in einem ehemaligen französischen Militärkomplex eingerichtet, dessen Bau durch den Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 unterbrochen und der anschließend von den deutschen Besatzungsbehörden in ein Frontstalag (Kriegsgefangenenlager) umgewandelt worden war. Die Internierten waren gezwungen, in für Wohnzwecke ungeeigneten Baracken zu leben, deren hölzernes Ständerwerk mit Faserzementplatten verkleidet war. Gebäude mit Betonfundamenten wurden für eine Küche, Speisesäle, eine Schule und eine Kapelle genutzt. Der Keller eines ehemaligen Bauernhauses diente als Gefängnis. Das Lager war mit einem doppelten Stacheldrahtzaun umzäunt; auf jeder Seite gab es zwei Wachtürme. Das Lager wurde direkt von der Präfektur des Departements Maine-et-Loire verwaltet. Das Verwaltungs- und Hauspersonal, nicht mehr als ein Dutzend Personen, stand unter der Aufsicht eines Direktors.

Die Gefangenen

Bis zur Schließung des Lagers am 16. Januar 1945 waren dort fast 2 000 Personen unter der Aufsicht der französischen Gendarmerie und ziviler Wachmannschaften interniert. Bei über 90 Prozent der Internierten handelte es sich um Familien, die aus Lagern im Nordwesten Frankreichs nach Montreuil-Bellay verlegt worden waren. Sie kamen aus den Lagern La Morellerie im Departement Indre-et-Loire, Coray im Departement Finistère, Montsûrs im Departement Mayenne, Mulsanne im Departement Sarthe, Barenton im Departement Manche und Poitiers im Departement Vienne, deren Schließungen zwischen Herbst 1941 und Winter 1943 beschlossen worden waren. Individuelle Einweisungen waren selten. Die Höchstzahl an Internierten betrug 1 086 Personen im August 1942. Von diesem Zeitpunkt an ging die Anzahl der Internierten stetig zurück und lag im Januar 1945 bei etwa 500.

Die als Nomadesbezeichneten Familien machten mehr als drei Viertel der Internierten aus. 91 Prozent von ihnen waren französische Staatsangehörige. Hinzu kamen mehrere Familien von Schausteller:innen, von denen die meisten spätestens im Sommer 1942 entlassen wurden, sowie einige Sträflinge, Prostituierte, Personen ohne festen Wohnsitz und Personen, die „wie die Nomades“ lebten und von den Präfekten eingewiesen worden waren.

Lebensbedingungen

Da die Internierten bereits ein, zwei oder drei Lager durchlaufen hatten, bevor sie nach Montreuil-Bellay verlegt wurden, waren sie bei ihrer Ankunft mittellos und verfügten nur über wenige persönliche Gegenstände. Die Lebensbedingungen waren aufgrund der schlechten Versorgung und Ausstattung sehr schwierig: Der Mangel an Lebensmitteln führte zu Unterernährung, es gab keine Öfen, kein Brennholz und keine Decken in den Baracken, zudem gab es weder Kleidung noch Schuhe zum Wechseln. Auch die hygienischen Bedingungen waren sehr schlecht, da praktisch keine sanitären Einrichtungen vorhanden waren. In den Zeugnissen von Überlebenden wird immer wieder auf das Elend hingewiesen, das durch die Kälte, den Hunger und die mangelnde Hygiene verursacht wurde. In ihrer Not verwendeten die Familien oft das Holz der Barackenböden oder sogar ihre eigenen Holzschuhe, um ein wärmendes Feuer zu entzünden. Die Franziskanerinnen – sie waren „Missionarinnen Mariens“ (Soeurs Franciscaines Missionnaires de Marie) –, die ab Januar 1942 bei den Internierten lebten, versuchten, mithilfe des Roten Kreuzes zumindest das Leben der Kinder zu verbessern. Sie richteten eine Kinderkrippe ein und organisierten die Verteilung von Lebensmitteln.

Der französische Staat legitimierte die Internierung der „Nomades“ als „Sozialisierung“ dieser Bevölkerungsgruppen. Dieses Ziel sollte durch religiöse Erziehung, Schulbesuch der Kinder und Arbeit der Erwachsenen erreicht werden, weshalb im Lager eine Kapelle, eine Schule und eine Werkstatt zur Herstellung von Tarnnetzen eingerichtet wurden. Die Erwachsenen konnten auch zu den für den Betrieb des Lagers erforderlichen Arbeiten herangezogen oder von den Besatzungsbehörden für Erdarbeiten auf einem Flugplatz in der Nähe von Saumur oder bei Bedarf von benachbarten Industriebetrieben angefordert werden.

Die Bedingungen im Lager schwächten die Gesundheit der Internierten, die aufgrund der vorherigen Internierungen ohnehin bereits angegriffen war. Zwischen November 1941 und Januar 1945 wurden etwa 120 Todesfälle verzeichnet. Die höchste Sterblichkeitsrate gab es zwischen September 1942 und Februar 1943 (67 Tote). Durch die Verbesserung der Ernährungslage im Winter 1943/44 ging die Sterblichkeit deutlich zurück. Die Toten wurden auf dem städtischen Friedhof von Montreuil-Bellay beigesetzt. Nur unter Polizeibegleitung durften Familienangehörige sie zu ihrer letzten Ruhestätte begleiten.

Flucht, Entlassung, Deportation

Es gab zwei Möglichkeiten, das Lager zu verlassen: Flucht oder Entlassung. Fluchten waren selten und noch seltener erfolgreich. Diejenigen, die fliehen konnten, wurden von den Ordnungskräften schnell wieder verhaftet, da sie von der örtlichen Bevölkerung als „Nomades“ identifiziert wurden.

An eine Entlassung waren zahlreiche Bedingungen geknüpft: Neben dem Nachweis einer Unterkunft und einer Arbeit mussten Genehmigungen der französischen und deutschen Behörden eingeholt werden. Trotz dieser strengen Voraussetzungen konnten mehr als 1 000 Personen entlassen werden. Sie unterlagen jedoch dem Dekret vom 6. April 1940, das einen Zwangsaufenthalt (assignation a residence) an einem bestimmten Ort vorsah. Das Verbot, den Wohnort zu verlassen, wurde in einigen Fällen missachtet, da die Entlassenen die Nähe zu anderen Familienmitgliedern suchten, um überleben zu können.

Für elf Familien endete die Flucht aus dem Lager Montreuil-Bellay tragisch. Sie gelangten letztlich in das Departement Pas-de-Calais, das dem Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich unterstellt war. Bei den Razzien, die dort von Oktober bis Dezember 1943 stattfanden, wurden sie inhaftiert und schließlich am 15. Januar 1944 mit dem Transport Z vom SS-Durchgangslager Mechelen in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.

Schließung

Am 16. Januar 1945 wurde das Lager Montreuil-Bellay für „Nomades“ geschlossen, um Häftlinge aus Elsass-Lothringen und Deutschland, die im Lager Natzweiler-Struthof (Elsass) festgehalten wurden, dort zu internieren. 300 „Nomades“ wurden in das Lager Jargeau (Loiret) und etwa 50 in das Lager Les Alliers (Charente) verlegt, fast 200 wurden entlassen.

Nach 1945

Ab 1946 wurden die Lagereinrichtungen verkauft und das Gelände an die früheren Eigentümer:innen zurückgegeben. Erhalten blieben nur die Fundamente der Gebäude und Reste der Treppenhäuser. Der Bereich, in dem die Internierten untergebracht waren, verschwand vollständig und die Geschichte des Lagers geriet in Vergessenheit, bis sie 1983 dank der Pionierarbeit des Historikers Jacques Sigot (1940–2024) wiederentdeckt wurde. Die Beharrlichkeit von Sigot, dem Überlebenden Jean-Louis Bauer (1930–2007) und Jean Richard (geb. 1941), dessen Angehörige im Lager interniert gewesen waren, sowie private Spenden führten 1988 zur Errichtung einer Gedenkstele auf einem Grundstück am Ort des ehemaligen Zwangslagers. Seit 1990 findet jeden letzten Samstag im April ein Gedenkgottesdienst statt.

Im Jahr 2010 erwarb die Stadt Montreuil-Bellay einen Hektar Land, auf dem sich die wichtigsten Überreste des Lagers befanden. Im Jahr 2012 wurde die Stätte vom französischen Kulturministerium in die Liste der historischen Denkmäler aufgenommen. Dadurch ist ihre Erhaltung gewährleistet und die Geschichte der Internierung von „Nomades“ durch die Behörden anerkannt.

Am 29. Oktober 2016 fand in Montreuil-Bellay eine nationale Gedenkveranstaltung statt, bei der der damalige Präsident der Französischen Republik, François Hollande (geb. 1954), zum ersten Mal die Verantwortung Frankreichs für das den Sinti:ze und Rom:nja während des Zweiten Weltkrieges zugefügte Leid anerkannte. Das von der Keramikkünstlerin Armelle Benoît (geb. 1961) geschaffene Denkmal „Instant nomade“ wurde bei der Gedenkfeier enthüllt. Seit 2016 hat das Centre Régional „Résistance & Liberté“ in Thouars umfangreiche Recherchen in den Archiven des Departements durchgeführt. Dadurch konnten die Namen von 1 850 Personen, die in Montreuil-Bellay interniert waren, ermittelt und ihre Lebensgeschichten rekonstruiert werden. Auf Initiative der Stadt Montreuil-Bellay und in Zusammenarbeit mit dem Centre Régional „Résistance & Liberté“ wird derzeit am historischen Ort eine Gedenkstätte mit einer Dauerausstellung zur Geschichte der Internierung der Sinti:ze und Rom:nja errichtet.

Zitierweise

Virginie Daudin: Montreuil-Bellay, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 17. März 2025.

1941
8. November 1941Im deutsch besetzten Frankreich wird das Zwangslager Montreuil-Bellay eröffnet. Die ersten Internierten werden aus dem Lager La Morellerie (Indre-et-Loire) dorthin verlegt.
2. Dezember 1941Die Internierten des Zwangslagers Coray (Finistère) werden nach Montreuil-Bellay, deutsch besetztes Frankreich, verlegt.
1942
5. April 1942Die Internierten des Zwangslagers Montsûrs (Mayenne) werden nach Montreuil-Bellay, deutsch besetztes Frankreich, verlegt.
3. August 1942Die Internierten des Zwangslagers Mulsanne (Sarthe) werden nach Montreuil-Bellay, deutsch besetztes Frankreich, verlegt.
1943
29. Dezember 1943Die Internierten des Zwangslagers Poitiers (Vienne) werden nach Montreuil-Bellay, deutsch besetztes Frankreich, verlegt.
1945
16. Januar 1945Das Zwangslager Montreuil-Bellay, deutsch besetztes Frankreich, wird geschlossen.
1988
16. Januar 1988Am Ort des ehemaligen Zwangslagers in Montreuil-Bellay, Frankreich, wird eine Gedenkstele eingeweiht, die u.a. auf die Initiative des Überlebenden Jean-Louis Bauer zurückgeht.
2016
29. Oktober 2016Auf einer nationalen Gedenkfeier am Ort des ehemaligen Zwangslagers Montreuil-Bellay, Frankreich, erkennt Präsident François Hollande erstmals die Verantwortung Frankreichs für das den Sinti:ze und Rom:nja während des Zweiten Weltkrieges zugefügten Leids an. Bei der Gelegenheit wird das Denkmal „Instante nomade“ der Künstlerin Armelle Benoît enthüllt.