Als ‚Verbotene Küstenzone‘ [Zone Côtière Interdite] wird der an der Atlantikküste gelegene, etwa 900 Kilometer lange und etwa 20 bis 30 Kilometer breite Landstreifen Frankreichs bezeichnet, für den besondere Aufenthaltsbestimmungen galten. Nachdem Deutschland am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, verhängte Frankreich noch am gleichen Tag den Belagerungszustand. Damit gingen Polizeibefugnisse auf die Militärbehörde über. Die Küstenzone wurde aufgrund ihrer Nähe zum Vereinigten Königreich zur strategischen Zone erklärt. Deshalb sollte dieses Gebiet von Personen geräumt werden, die als unerwünscht galten und der Spionage oder des Verstoßes gegen militärische Operationen verdächtigt wurden.
Verbot der Freizügigkeit in Frankreich
Am 22. Oktober 1939 verbot der Kommandant der 9. Militärregion per Erlass die Freizügigkeit für ‚Nomaden- und Jahrmarktsfamilien‘ in acht Departements im Westen Frankreichs, und es wurde Hausarrest oder Abschiebung in das Landesinnere empfohlen. Von diesen Maßnahmen waren alle Inhaber:innen der 1912 in Frankreich eingeführten ‚carnet anthropométrique‘ [anthropometrischer Ausweis] und der ‚carnet d’identité forain‘ [Jahrmarktausweisbuch] betroffen und bedroht. Per Erlass wurde am 6. April 1940 das Verbot der Freizügigkeit von Rom:nja und Sinti:ze auf das ganze französische Festland für die Dauer des Krieges ausgeweitet.
Deutsch besetztes Belgien und Nordfrankreich
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien und Frankreich im Mai 1940 wurden Sonderregeln in der Verbotenen Küstenzone an der Nordsee auch von den deutschen Besatzern fortgeführt.
In Belgien wurden in der Küstenzone die Grenzüberwachung sowie die Spionageprävention verstärkt. Der Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich, Alexander von Falkenhausen (1878–1966), untersagte mit der Verordnung vom 18. November 1940 den ambulanten Handel in Flandern – Ost und West – und in der Region Antwerpen. Auch wenn in der Verordnung ‚Zigeuner‘ nicht ausdrücklich genannt wurden, war ihnen damit faktisch jede Reise- oder Aufenthaltsmöglichkeit verwehrt.
Mit einem Beschluss vom 10. April 1941 kam es zu einer Abstufung der Maßnahmen: Die Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich entschied, dass der Aufenthalt von Sinti:ze und Rom:nja in diesen Gebieten nicht mehr gestattet sei, was vor Ort zu Durchsuchungen an den Wohnstätten und Stellplätzen sowie zu Vertreibungen führte. Diese Anordnung zeigt eine deutliche Radikalisierung der Maßnahmen gegen Sinti:ze und Rom:nja: Einzelne Personen werden nicht mehr aufgrund ihrer Lebensweise verdächtigt und behelligt, sondern nach nationalsozialistischen Kriterien. Eine nicht sesshafte Lebensweise und ‚Rasse‘ wurden untrennbar miteinander verbunden.
Was dies für die Betroffenen bedeuten konnte, zeigt das Beispiel der Familie Marinkovitch, die im französischen Calais (Departement Pas-de-Calais) lebte. Die elfköpfige Familie wurde am 16. Dezember 1940 verhaftet, kurzzeitig für jüdisch gehalten und interniert, später aber als ‚Zigeuner‘ identifiziert. Nach ihrer Überstellung nach Boulogne-sur-Mer wurde sie ins Landesinnere nach Troyes (Departement Aube) evakuiert. Diese Region unterstand dem deutschen Militärbefehlshaber für Frankreich. Familie Marinkovitch überlebte den Krieg.
Ein anderes Beispiel sind die neun Sinti und Roma, Männer im Alter zwischen 16 und 32 Jahren, die am 6. Februar 1943 von der Geheimen Feldpolizei 712 in der ‚Verbotenen Küstenzone‘ in Antwerpen verhaftet wurden. Sie wurden über das Gefängnis in Antwerpen, die Zitadelle von Huy und das Gefängnis Saint-Gilles in Brüssel nach Deutschland überführt und aus Aachen als „Sicherheitshäftlinge“ im November 1943 in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur einer von ihnen, Joseph Collicon (1926–unbekannt), überlebte.