Das etwa 30 Kilometer von München, Deutschland, entfernte Konzentrationslager war das am längsten existierende Konzentrationslager im Deutschen Reich. Unter den Häftlingen befanden sich nach neuesten Erkenntnissen auch schätzungsweise 2 400 bis 2 900 Sinti:ze und Rom:nja verschiedener Nationalitäten, die übergroße Mehrheit von ihnen war männlich.
Konzentrationslager Dachau 1933–1945
Bereits kurz nach dem 30. Januar 1933 entstanden überall im Deutschen Reich Haftstätten. Das Konzentrationslager (KZ) Dachau, zunächst vor allem bestimmt für die Inhaftierung männlicher, politischer Gefangener, wurde auf dem Gelände einer stillgelegten Pulver- und Munitionsfabrik eingerichtet. Am 22. März 1933 erreichten die ersten Transporte das Lager, welches zunächst der bayrischen Staatspolizei unterstand, die ab April 1933 von der SS abgelöst wurde. Schon in der Frühphase gehörten körperliche und psychische Gewalt gegenüber den Häftlingen zum Lageralltag. Bereits am 12. April 1933 wurden die ersten vier jüdischen Häftlinge von der SS unter dem Vorwand eines angeblichen Fluchtversuchs ermordet.
Eingangstor zum ehemaligen Lagerbereich des Konzentrationslagers Dachau, November 2010. Das am 22. März 1933 in der Nähe von München in Betrieb genommene Lager Dachau war das erste und am längsten existierende Konzentrationslager unter Verwaltung der SS (Schutzstaffel) im Deutschen Reich. Die Inschrift „Arbeit macht frei“ ist eine zynische Botschaft der SS-Verwaltung an die Häftlinge, die angeblich durch Arbeit umerzogen werden sollten. Tatsächlich wurden die Gefangenen physisch und psychisch gequält. Mehr als 200 000 Menschen waren insgesamt in dem Haupt- und den Nebenlagern inhaftiert, mehr als 40 000 starben bis zur Befreiung am 29. April 1945 an Gewaltverbrechen, Hunger oder Entkräftung.
Schätzungsweise 2 400 bis 2 900 Sinti:ze und Rom:nja verschiedener Nationalitäten befanden sich unter den Häftlingen, die übergroße Mehrheit von ihnen war männlich.
Fotograf: Nihad Nino Pušija
Nihad Nino Pušija
Am 26. Juni 1933 wurde Theodor Eicke (1892–1943) zum zweiten Kommandanten des Lagers ernannt und führte im Oktober eine „Disziplinar- und Strafordnung“ ein, welche die Herrschaft der SS (Schutzstaffel) über die Gefangenen institutionalisierte und von Willkür und Terror geprägt war. Mit der dauerhaften Etablierung des Konzentrationslagersystems im Jahr 1935 kam dem KZ Dachau eine zentrale Rolle in diesem System zu, in dem neben politischen Gegnern auch mehr und mehr Menschen aus rassischen, religiösen und sozialrassistischen Gründen inhaftiert wurden. Gleichzeitig wurde der Lagerkomplex weiter ausgebaut.
Im Lager kam es in diesen Jahren zu einer kontinuierlichen Verschärfung der Haftbedingungen. 1938 wurden nach den Novemberpogromen mehr als 11 000 jüdische Männer nach Dachau verschleppt, wo sie Wochen bis Monate inhaftiert wurden. Bereits im Sommer des gleichen Jahres wurde im Rahmen der ‚Aktion Arbeitsscheu Reich‘ erstmals auch eine größere Gruppe Sinti und Roma in das KZ Dachau eingeliefert. Nach dem Beginn des Krieges veränderte sich die Häftlingsgesellschaft je nach politischen oder militärischen Entwicklungen immer wieder.
Mehr und mehr veränderte sich auch die Rolle des sogenannten Stammlagers in Dachau. Ab 1942 entstanden vermehrt Außenlager und Außenkommandos, insbesondere im Süden Bayerns. In den beiden Außenlagerkomplexen Mühldorf und Kaufering mussten Zehntausende Häftlinge auf Baustellen Bunker für die Unterlageverlagerung der Rüstungsindustrie bauen und starben dort zu Tausenden.
Die Befreiung des Stammlagers erfolgte am 29. April 1945 durch amerikanische Truppen, nachdem die SS begonnen hatte, Häftlinge auf sogenannte Todesmärsche zu schicken, um ihre Befreiung zu verhindern. Während der gut zwölf Jahre des Bestehens des KZ Dachau waren mehr als 200 000 Gefangene inhaftiert. Mindestens 41 500 starben an Hunger, Krankheiten, Folter, Mord und den Folgen der Haft.
Sinti:ze und Rom:nja als Häftlingsgruppe in Dachau
Wie bei vielen anderen Konzentrationslagern ist es auch für Dachau bis heute nicht einfach, die genaue Zahl der inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja zu bestimmen. Für eine Einschätzung werden hier unter anderem Personen betrachtet, die sich selbst als Sinti:ze oder Rom:nja bezeichneten, sowie Menschen, die in den nationalsozialistischen Quellen als „Zigeuner“ bezeichnet wurden, aber auch Personen, die im Nachhinein durch Quellenrecherche als Sinti:ze und Rom:nja zu identifizieren sind. In den Quellen aus dem Lager finden sich erst ab den 1940er-Jahren in größerem Maße Hinweise wie „Zig.“ oder „Zigeuner“. Die Kennzeichnung über einen braunen Winkel fand nur im Sommer 1939 kurzfristig statt, sonst trugen die meisten Sinti:ze und Rom:nja in Dachau gemäß der Häftlingskategorien der SS einen schwarzen Winkel auf ihrer Kleidung. Zudem haben sich nur verhältnismäßig wenige Überlebende öffentlich zu ihrer Haftzeit im KZ Dachau geäußert, sodass auch hier nur wenige Quellen zur Verfügung stehen. Die neuesten Untersuchungen gehen von insgesamt 2 400 bis 2 900 im KZ Dachau inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja aus, von denen 2 343 Personen namentlich identifiziert sind. Dabei handelt es sich zu großen Teilen um Männer, erst ab dem Winter 1944 kamen mindestens 370 Frauen kurzzeitig nach Dachau.
Die Frühphase: 1933–1939
In den ersten fünf Jahren des Bestehens lassen sich aus den Quellen nur vereinzelt Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Dachau nachweisen. Zwar finden sich immer wieder Hinweise auf die „Bettler- und Zigeunerbekämpfung“, in deren Rahmen die bayrischen Behörden zahlreiche Personen nach Dachau deportierten, aber es ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, ob sich unter diesen Häftlingen auch tatsächlich Sinti und Roma befanden. Der erste namentlich bekannte Sinto unter den Häftlingen ist Bernhard Pabst (1912–1992) aus Altenmuhr, der am 16. Mai 1934 im Alter von 22 Jahren als Schutzhaftgefangener mit der Nummer 5860 registriert wurde, nachdem er in eine Schlägerei mit lokalen SA-Angehörigen verwickelt worden war.
Für die Phase ab Juni 1938 ist aufgrund der reichsweiten rassistisch motivierten ‚vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‘ die massenhafte Einweisung von Sinti:ze und Rom:nja aus Deutschland sowie Österreich ins KZ Dachau charakteristisch. Diese erste konzentrierte Aktion gegen Sinti:ze und Rom:nja im Deutschen Reich war in den Erinnerungen Überlebender nach 1945 äußerst präsent, wie das Beispiel des damals zehnjährigen Anton Winter (1928–unbekannt) zeigt: „Die Männer waren alle weg, sie waren alle in das KZ Dachau verschleppt worden. Das war 1938, ich weiß noch das Datum, am 17. Juni haben die Nazis sie verhaftet, am 27. Juni sind sie in das Konzentrationslager nach Dachau gekommen.“1Winter, „Wir, die wir geblieben waren,“ 237. Insgesamt finden sich in den Zugangsbüchern des KZ Dachau für diesen Sommer mehrere Hundert Personennamen, die mit dem Kürzel „AZR“ (‚Arbeitszwang Reich‘) versehen sind. Alleine im Juni 1938 wurden 856 Personen registriert. In der Chronik der Gendarmerie des Burgenlandes sind 232 im Juni 1938 nach Dachau verschleppte burgenländische Roma verzeichnet, was den größten Teil der etwa 300 in diesem Zusammenhang nach Dachau deportierten Sinti und Roma darstellen dürfte. Auch der 63 Jahre alte Franz Horvath (1875–1938) war unter den Häftlingen. Er hatte am 12. Mai 1938 gemeinsam mit anderen österreichischen Roma einen Beschwerdebrief an die Reichsregierung verfasst und sich unter anderem über die Behandlung durch den berüchtigten Gauleiter und Landeshauptmann des Burgenlandes, den SA-Mann Tobias Portschy (1905–1996), beklagt.2Franz Horvath, „Daher habe ich mich kurz entschlossen, die hohe Reichsregierung anzurufen.“ In RomArchive, 2017, www.romarchive.eu/de/collection/daher-habe-ich-mich-kurz-entschlossen-die-hohe-reichsregierung-anzurufen. In Dachau wurde er von Beginn an von der SS stark misshandelt, in Einzelhaft untergebracht und schließlich in das Gefängnis Stadelheim überstellt. Dort starb er am 22. Oktober 1939, gut 16 Monate nach seiner Einlieferung in das KZ Dachau.
Roma aus dem Burgenland im Konzentrationslager Dachau, Deutschland, Juli 1938. Anhand der Häftlingsnummern konnten Stefan Hodosy (2. von rechts) und Ignaz Horvath (rechts) aus St. Margarethen, Österreich, identifiziert werden. Sie waren unter den 232 Roma aus dem Burgenland, die am 25. Juni 1938 in das Lager eingeliefert und in Block 10 untergebracht worden waren. Stefan Hodosy (geb. 1911) wurde im Oktober 1941 nach Wien überstellt, weiteres ist nicht bekannt. Ignaz Horvath (geb. 1912) wurde im Konzentrationslager Mauthausen befreit.
Die Fotografie ist Teil einer Serie, die ein Münchner Fotograf im Sommer 1938 in Dachau anfertigte. Aus überlegener Perspektive vermittelt der Fotograf mit dieser vermutlich gestellten Szene die vermeintliche Zucht und Ordnung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Für die Häftlinge war das Lagersystem jedoch von terroristischer Gewalt geprägt.
Fotograf: Friedrich Franz Bauer
Bundesarchiv, Bild 152-27-11A
Unter den im Juni 1938 eingelieferten Häftlingen befanden sich auch Stefan Hodosy (auch Hodosch) (1911–unbekannt) und Ignaz Horvath (1912–unbekannt). Die beiden Männer aus St. Margarethen im Burgenland sind auf der einzigen Fotografie zu erkennen, die nicht im Rahmen der erkennungsdienstlichen Aufnahmen gemacht wurde und Sinti und Roma im KZ Dachau zeigt.
Ein Jahr später, am 28. Juni 1939, wurden mindestens 554 Sinti und Roma aus Österreich im Rahmen einer ganz konkret gegen ‚Zigeuner‘ gerichteten Aktion nach Dachau verschleppt. Unter dem Betreff „Vorbeugende Maßnahmen zur Bekämpfung der Zigeunerplage im Burgenland“ hatte das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) am 5. Juni 1939 in einem Brief an die Kriminalpolizeileitstelle Wien befohlen, „[…] die arbeitsscheuen und in besonderem Maße asozialen Zigeuner oder Zigeunermischlinge des Burgenlandes in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen.“3Brief des RKPA an die Kripo Wien, 05.06.1939, abgedruckt bei Steinmetz, Österreichs Zigeuner, 51. Oftmals wurden alle männlichen Mitglieder einer Familie nach Dachau deportiert.
Quellen zu den Lebensbedingungen der in Dachau inhaftierten Sinti und Roma existieren grundsätzlich nur in geringem Maße und auch für die Jahre 1938 und 1939 bleibt das Bild sehr bruchstückhaft. Die Zusammenfassung eines Gesprächs mit dem österreichischen Sinto Rudolf Blach (1915–1997) gehört zu den wenigen Berichten von Angehörigen der Minderheit über diese Zeit.4Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, A 1166, Bericht über ein Gespräch mit Rudolf Blach am 11.06.1982. Er beschreibt, dass es schon bei der Ankunft zu Misshandlungen durch die SS gekommen sei, die über die üblichen Schikanen hinausgingen. So seien die Kleider der neuen Häftlinge verbrannt und die burgenländischen Sinti und Roma in das an das Häftlingslager angrenzende Flüsschen Würm geworfen worden. In den folgenden drei Monaten hätten die ‚Kapos‘ (Funktionshäftlinge) vor allem in den Kiesgrubenkommandos Sinti:ze und Rom:nja in das sich dort sammelnde, eiskalte Wasser gestoßen, worauf diese an Unterkühlung gestorben seien. Dokumente und Interviews mit Angehörigen anderer Häftlingsgruppen bestätigen, dass sich Sinti und Roma am unteren Ende der Häftlingsgesellschaft befanden und die Überlebenschancen nochmals deutlich niedriger waren als für die Gesamtheit der Häftlinge. Sinti und Roma wurden beispielsweise Kommandos mit besonders harten Arbeitsbedingungen, wie der sogenannten Plantage, zugeteilt. Dort mussten die Häftlinge zu dieser Zeit den schweren, nassen Moorboden für die Landwirtschaft nutzbar machen.
Aufgrund einer temporären Räumung des Lagers ab September 1939 wurden die Häftlinge in andere Lager verlegt. Mindestens 534 Sinti und Roma wurden am 26. September 1939 nach Buchenwald und 143 am 27. September 1939 nach Mauthausen deportiert.5Arolsen Archives ITS DA, 1.1.6.1./9909812, Veränderungsmeldung Dachau vom 26.09.1939; ebd., 1.1.6.1/9913123, Aufstellung für den Transport von Dachau nach Mauthausen am 27.09.1939. Im Laufe der kommenden Jahre wurden mindestens 121 von ihnen erneut in Dachau registriert.
Das KZ Dachau im Krieg: 1940–1945
Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Sinti:ze und Rom:nja nochmals deutlich. Das KZ Dachau spielte in dieser Phase aber zunächst eine untergeordnete Rolle. Aktuell sind mindestens 368 Sinti und Roma namentlich bekannt, die zwischen dem 5. März 1940 und dem 2. August 1944 eingeliefert wurden. Die Anlässe für eine Deportation nach Dachau waren in dieser Phase diverser als noch zuvor: Es waren vor allem individuelle Gründe, wie Verstöße gegen den „Festsetzungserlass“, Verhaftungen bei Razzien, die sich gegen Sinti:ze und Rom:nja oder sogenannte ‚Arbeitsscheue‘ richteten, unerlaubte Grenzübertritte, Spionagevorwürfe oder der Vorwurf der ‚Rassenschande‘. Die zunehmende Ausdehnung des KZ-Systems sorgte zudem dafür, dass Sinti und Roma aus anderen Lagern nach Dachau überstellt wurden.
Wahrscheinlich wurden Sinti und Roma zu dieser Zeit in bestimmten Stuben innerhalb der Baracken, die für Häftlinge mit grünem oder eben schwarzem Winkel bestimmt waren, untergebracht. Aus dieser Phase sind einige Berichte anderer Häftlinge überliefert, die über ‚Zigeuner‘ als Mithäftlinge berichten. Diese Berichte bieten einen Einblick in die harten Lebensbedingungen im Lager, wie auch die Misshandlung von Sinti und Roma durch die SS, sind aber durchsetzt mit antiziganistischen Zuschreibungen. Ausführliche Berichte von Angehörigen der Minderheit selbst sind auch für diese Phase die Ausnahme. Einer der wenigen Berichte stammt von Leonard Blach (1920–unbekannt), einem deutschen Sinto, der beispielsweise über Arbeitskommandos erzählt, in denen er eingesetzt wurde: bei der Munitionsherstellung, bei Straßenbauarbeiten im Außenkommando Schleißheim und in einem Schreinereikommando.6Archiv des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma (DokA), Nachlass Gerd Kummet, Interview mit Leonard Blach (München-Daglfing) am 18.07.2002.
Ebenfalls in dieser Zeit fand die sogenannte Aktion 14f13 statt. Unter den 2 524 Opfern, die im Jahr 1942 von Dachau aus in die Tötungsanstalt Hartheim transportiert und dort ermordet wurden, befanden sich auch Sinti und Roma. Deren genaue Anzahl ist bislang aufgrund fehlender Forschung nicht bekannt. Einer von ihnen war Karl „Wacker“ Horvath (1908–1942), der am 28. November 1942 mit einem sogenannten „Invalidentransport“ nach Hartheim verbracht und dort am selben Tag ermordet wurde.
In die letzten Monate dieser Phase fallen die sogenannten Meerwasserversuche, die Teil der Medizinverbrechen in Dachau waren. Mindestens 55 Personen — die meisten von ihnen Sinti und Roma, darunter 40 Männer, die zu diesem Zweck am 7. August 1944 eigens aus Buchenwald überstellt worden waren — wurden von August bis September für eine im Auftrag der Luftwaffe durchgeführte Versuchsreihe zur Trinkbarmachung von Salzwasser missbraucht. Mehrere von ihnen, wie der ehemalige Boxer und spätere Teilnehmer am Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau, Jakob Bamberger (1913–1989), sagten bei Prozessen aus oder berichteten in Erinnerungsberichten von den Experimenten.
Der deutsche Sinto Ernst Mettbach (1920–1972) als Zeuge beim Nürnberger Ärzteprozess. Seine Aussage erfolgte am 21. Juni 1947 in Nürnberg, amerikanisch besetzte Zone Deutschlands. Verhandelt wurden u.a. die sogenannten Meerwasserversuche im Konzentrationslager Dachau. Die Versuche führte der Angeklagte Wilhelm Beiglböck (1905–1963) im Jahr 1944 an 40 Sinti und Roma durch, die dafür eigens aus dem Konzentrationslager Buchenwald nach Dachau überführt worden waren. Neben Mettbach sagte auch der Überlebende Karl Höllenreiner (1914–1984) aus.
Beiglböck wurde in zweiter Instanz zu zehn Jahren Haft verurteilt. 1951 befand er sich wieder auf freiem Fuß und praktizierte bis zu seinem Tod im Jahr 1963 als Arzt in Buxtehude.
Fotograf:in: unbekannt
USHMM, Photograph Number 43039, Public Domain
Ab dem Spätsommer 1944 wurden aufgrund des Vormarschs der Roten Armee und der verstärkten Nutzung der Außenlager für den Zwangsarbeitseinsatz immer mehr Häftlinge in den Dachauer Lagerkomplex verbracht. Dabei gelangten zum einen vor allem deutsche und österreichische Sinti und Roma aus anderen Konzentrationslagern, wie beispielsweise Natzweiler-Struthof, nach Dachau. Zum anderen wurden infolge des Putsches der faschistischen Pfeilkreuzler im November und Dezember 1944 Rom:nja in Ungarn verhaftet und zur Zwangsarbeit in die auf Reichsgebiet liegenden Konzentrationslager deportiert. In Dachau wurden mindestens 1 150 ungarische Rom:nja registriert, darunter laut der überlieferten Unterlagen (wie Transportlisten oder Schreibstubenkarten) 361 Frauen. Diese ungarischen Romnja blieben allerdings nur wenige Tage in Dachau, bevor sie nach Ravensbrück und Bergen-Belsen verlegt wurden. Von den Männern verblieben 285 im Dachauer Lagersystem (sie befanden sich vor allem im Stammlager sowie den Außenlagern Allach und München-Riem), davon überlebten mindestens 160 Personen die Befreiung nicht. Unter den ersten Toten war Istavan Kolompar (1869–1944). Er und seine Familie lebten bei Bicsérd, einem kleinen Ort im Süden Ungarns. Anfang November 1944 wurden drei Generationen der Familie von der Polizei verhaftet und zunächst nach Csillag gebracht. Istavan Kolompar, der 75 Jahre alte Großvater der Familie, kam am 18. November 1944 im KZ Dachau an, wo er schon am 14. Dezember 1944 starb. József Balogh (1928–unbekannt), ein slowakischer Rom, der einen Monat später, am 21. Dezember 1944, mit nur 16 Jahren nach Dachau kam, beschrieb in einem Interview Szenen des alltäglichen Terrors gegenüber den Häftlingen, wie das stundenlange Appellstehen. Die genauere Erforschung der Geschichte der ungarischen Rom:nja in Dachau stellt eine weitere Forschungslücke dar.
Am 29. April 1945 wurde das Stammlager des KZ Dachau von amerikanischen Truppen befreit. Mindestens 19 Sinti und Roma starben in den folgenden Wochen noch an den Folgen der Lagerhaft, insgesamt sind 241 Sinti und Roma als in Dachau gestorben registriert. Wie viele von den zwischen 1933 und 1945 in Dachau inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja in anderen Lagern ermordet wurden, ist nicht bekannt.
Nachkriegsgeschichte und Erinnerung
Welche Bedeutung der Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja in der Nachkriegszeit und der Frühphase der Geschichte der Gedenkstätte Dachau beigemessen wurde, ist noch eine offene Forschungsfrage. In der ersten Dauerausstellung nach der Einrichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau 1965 wurden Sinti:ze und Rom:nja nur zwei Mal erwähnt und im Dokumentationsfilm in einer Auflistung genannt. In der seit Ende der 1990er-Jahre neu erarbeiteten und noch heute zu besichtigenden Ausstellung sind sie deutlich stärker berücksichtigt worden, aber es wird deutlich, dass es zu diesem Zeitpunkt an Grundlagenforschung zur Häftlingsgruppe in Dachau fehlte. Dementsprechend wird die Lagergeschichte stark durch den größeren Kontext der NS-Verfolgung ergänzt, wie beispielsweise durch Informationen zur ‚Rassenhygienischen Forschungsstelle‘.
Auf dem Gelände gibt es zudem an zwei Stellen Denkmäler, die an die inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja erinnern. Am 1968 eingeweihten „Internationalen Mahnmal“ befindet sich eine Installation mit verschiedenfarbigen Winkeln, darunter auch ein brauner Winkel. Dieser war vom Internationalen Häftlingskomitee bewusst integriert worden, nachdem die Winkel für sogenannte ‚Asoziale‘ (schwarz), ‚Berufsverbrecher‘ (grün) und Homosexuelle (rosa) vom Komitee aus dem Entwurf entfernt worden waren. Im Gedenkraum am Ende der Dauerausstellung hängt zudem eine Tafel, die 1980 von dem Liedermacher-Duo „Duo Z“ — Rudko Kawczynski (geb. 1954) und Tornado Rosenberg (geb. Mitte der 1950er-Jahre) — gestiftet wurde.
Hungerstreik 1980 und Fluchtburg 1993
Diese Tafel wurde im Rahmen eines Hungerstreiks in die KZ-Gedenkstätte Dachau gebracht. Diese für die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung der Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland zentrale Aktion schloss an vorherige Aktionen wie die große Kundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Jahr zuvor an. Die Gruppe von Aktivist:innen aus dem Verband Deutscher Sinti e. V. und der die Arbeit seit einiger Zeit unterstützenden Gesellschaft für bedrohte Völker wollte mit der Aktion die Aufmerksamkeit auf die noch immer im Umlauf befindlichen Akten aus der NS-Zeit und die auch nach 1945 fortgesetzte Praxis der Diskriminierung durch Polizei und Behörden lenken.
Der vom 4. bis 11. April 1980 andauernde Hungerstreik erregte eine große Aufmerksamkeit mit breiter Berichterstattung in der nationalen und internationalen Presse und mehreren Fernsehberichten, unter anderem in der „Tagesschau“. Insgesamt nahmen zwölf Sinti, darunter als Sprecher der spätere Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose (geb. 1946), und die Münchner Sozialarbeiterin Uta Horstmann (geb. 1950) aktiv am Hungerstreik in der auf dem Gelände der Gedenkstätte gelegenen evangelischen Versöhnungskirche teil. Besonders beeindruckend war die Teilnahme von vier Überlebenden, von denen drei zum Auftakt des Hungerstreiks ihre ehemalige KZ-Häftlingskleidung trugen: der bereits erwähnte Jakob Bamberger, Ranco Brantner (1931–1996), Hans Braun (1923–1999) und Franz Wirbel (1922–1986). Die ersten Tage beteiligten sich auch die beiden Musiker des Duo Z. Der Hungerstreik endete schließlich mit einem Kompromiss. Die drei Fraktionen im damaligen Landtag erklärten, dass sich die bayrische Landfahrerordnung von 1953 diskriminierend auf Sinti:ze und Rom:nja ausgewirkt habe. Der größte politische Erfolg der jungen Bürgerrechtsbewegung war allerdings das breite mediale Echo, das die Aktion an einem geschichtsträchtigen Ort wie Dachau erfahren hatte.
Hungerstreik von Überlebenden auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau, Deutschland, April 1980. Vom 4. bis zum 11. April 1980 begaben sich zwölf Sinti und eine Sozialarbeiterin aus München in einen Hungerstreik, um gegen die fortgesetzte Diskriminierung von Sint:ize und Rom:nja in der Bundesrepublik Deutschland zu protestieren. Vier Überlebende nahmen trotz der großen gesundheitlichen Risiken an dem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau teil: Franz Wirbel (1922–1986, links), Überlebender des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, Hans Braun (1923–1999, Mitte), ebenfalls Überlebender von Auschwitz-Birkenau und Flossenbürg, Jakob Bamberger (1913–1983, rechts), Überlebender von Flossenbürg, Dachau und Buchenwald, sowie Ranco Brantner (1931–1996), ein Opfer der Zwangssterilisationen.
Der Hungerstreik sorgte weltweit für ein großes mediales Echo und rückte schlagartig auch die bis dahin kaum wahrgenommene Verfolgung während des Nationalsozialismus in das Blickfeld der Öffentlichkeit.
Fotograf: Wolfgang Radtke
Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen
1993 wurde die Gedenkstätte zum Ort der Auseinandersetzung um ein Bleiberecht, für das Rom:nja kämpften, die aufgrund des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen waren. Ab dem 16. Mai 1993 kamen zunächst 40 aus Mazedonien, Kroatien, Serbien, Rumänien und Bulgarien geflohene Rom:nja nach Dachau und baten unter der Führung von Jasar Demirov (geb. unbekannt), dem damaligen Vorsitzenden der Roma Union Süddeutschland, in der Versöhnungskirche um Kirchenasyl. Anfang Juni waren es bereits 150 Personen, die auf dem der katholischen Todesangst-Christi-Kapelle und dem Karmel Heilig Blut zugehörigen Bereich in Zelten untergebracht wurden. Nachdem sich der Konflikt zwischen Gedenkstätte und Landeskirche auf der einen und der Landesregierung auf der anderen Seite immer weiter zuspitzte, stand die sogenannte „Fluchtburg“ Ende Juni kurz vor der gewaltsamen Räumung durch die Polizei. Kultusministerium und Kirchen forderten am 5. Juli 1993 die in Dachau anwesenden Rom:nja auf, das Gelände zu verlassen. Am 7. Juli verließen die letzten Rom:nja kurz vor Mitternacht das Gedenkstättengelände in Bussen, ein großer Teil von ihnen wurde nach Straßburg gebracht. Damit endete die „Fluchtburg“ nach 54 Tagen, ohne dass die Aktion vor Ort und die zahlreichen Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen eine Veränderung im Kleinen oder gar in der Asylpolitik der Bundesregierung gegenüber Rom:nja bewirkt hätten.
KZ-Gedenkstätte
In der Vermittlungs- und Gedenkarbeit am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers spielt die Geschichte der hier inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja erst seit Beginn der 2010er-Jahre eine größere Rolle. Seitdem werden von der KZ-Gedenkstätte Dachau regelmäßig Themenrundgänge angeboten und das ebenfalls in Dachau angesiedelte Max Mannheimer Studienzentrum integriert sowohl Biografien von in Dachau inhaftierten Sinti:ze und Rom:nja (beispielsweise Jakob Bamberger oder Karl „Wacker“ Horvath) als auch eine eigene Arbeitseinheit zur Geschichte der Häftlingsgruppe in seine Seminare. Die Versöhnungskirche Dachau bietet regelmäßig Veranstaltungen mit Überlebenden, Angehörigen oder anderweitig involvierten Personen zur Geschichte der Minderheit oder zu gegenwärtigen Fragen an. Bei Gedenkveranstaltungen, wie dem Todesmarschgedenken oder der Befreiungsfeier, sind Repräsentant:innen der Interessensverbände der Minderheit seit vielen Jahren vertreten.