Belgien

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  • Version 1.0
  • Publikationsdatum 6. Mai 2024

In Belgien lebten in den 1930er-Jahren wenige hundert Sinti:ze und Rom:nja. Als Folge einer einzigen Deportation, die unter deutscher Besatzung aus Belgien und Nordfrankreich am 15. Januar 1944 in das Konzentrations– und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau führte, wurden siebzig Prozent der Angehörigen der Minderheit in Belgien ermordet.

Zwischen Repression und Toleranz

Die Ankunft von „Bohémiens“ ist für Belgien um das Jahr 1420 belegt, und im Laufe der Jahrhunderte ist ihre Anwesenheit in mehreren großen belgischen Städten, darunter Tournai und Brüssel, sowie in der Nähe der Grenzen zu Deutschland und den Niederlanden, dokumentiert. Sie waren überwiegend als Korbflechter, Pferdehändler, Zinngießer, Musiker und Hausierer tätig, was mit einem Wandergewerbe verbunden war.

Der 1830 gegründete belgische Staat führte, wie andere europäische Länder zu dieser Zeit auch, für Menschen, die nicht ortsansässig waren, bestimmte Kontrollmechanismen ein, etwa an den Grenzen. Die neu eingerichtete Fremdenpolizei sollte gegen diejenigen vorgehen, die als Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Moral angesehen wurden. Sinti:ze und Rom:nja wurden dabei besonders ins Visier genommen, da sie mit Kriminellen oder Landstreichern gleichgesetzt wurden. Im Laufe der Zeit wurden Gesetze verabschiedet, die ihre Mobilität und ihren Zugang zum Land einschränkten, insbesondere durch die Internierung in „Arbeitshäusern“1Die „Arbeitshäuser“ in Belgien waren ein Erbe aus der Zeit der niederländischen und später der französischen Besatzung. Hier wurden Bettler, Alkoholiker, Prostituierte und andere als störend empfundene Personen eingesperrt und zur Arbeit herangezogen. Mit der Gründung des belgischen Staates wandelte sich ihr Charakter, je nach Regierung schwankten sie zwischen Wohltätigkeit (‚Wohlfahrtskolonien‘) und Repression (strafende Einsperrung, ‚Arbeitshäuser‘). oder durch Ausweisung.

Diese Maßnahmen griffen aus staatlicher Sicht jedoch nicht, denn die Zahl der in Belgien registrierten Sinti:ze und Rom:nja stieg weiter an. Zwischen 1880 und 1914 schwankte die belgische Politik gegenüber Sinti:ze und Rom:nja zwischen relativer Toleranz und Repression. Nach dem Ersten Weltkrieg und zu Beginn der 1930er-Jahre verschärfte auch Belgien die Grenzkontrollen und ging stärker gegen Sinti:ze und Rom:nja vor.

In den 1930er-Jahren wurden „Arbeitshäuser“ wiedereröffnet oder neu errichtet, um den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Deutschen Reich zu bewältigen. Sie wurden in den Provinzen Lüttich (Marneffe und Marchin), Antwerpen (Merxplas und Wortel), Hennegau (Marquain), Ostflandern (Eksaarde) und Westflandern (Sint-Andries) eingerichtet. In diese haftähnlichen Einrichtungen sperrte der belgische Staat vor allem jüdische Flüchtlinge ein, aber auch Kleinkriminelle, der Spionage oder anderer subversiver Aktivitäten Verdächtige sowie Rom:nja und Sinti:ze. Die Internierten wurden dort zur Arbeit herangezogen oder in den Bereichen Klempnerei, Tischlerei, Elektrizität und Gartenarbeit ausgebildet. Mit der Idee, eine Selbstverwaltung zu erreichen, trugen die Insassen zur Instandhaltung der Anstalten bei. Frauen nahmen an Näh- oder Wäschereikursen teil, die Kinder gingen zur Schule.

Kriegsbeginn

Das nationalsozialistische Deutschland überfiel am 10. Mai 1940 das neutrale Belgien. Von den ersten Stunden des deutschen Einmarschs an wurden die belgischen Behörden mit einer unvorhergesehenen und unkontrollierbaren Anzahl von flüchtenden Menschen konfrontiert. Mehr als 1,5 Millionen, möglicherweise sogar zwei Millionen Menschen gerieten in Panik und flohen. Frankreich reagierte schnell und öffnete bereits am 13. Mai seine Grenzen und nahm die meisten Flüchtlinge auf. Die belgischen Streitkräfte wurden rasch besiegt und kapitulierten am 28. Mai. Die belgische Regierung unter Hubert Pierlot (1883–1963) begab sich nach Frankreich ins Exil und später in das Vereinigte Königreich, während König Leopold III. (1901–1983) in Belgien blieb.

Der Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich

Belgien wurde unter die direkte Verwaltung des deutschen Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich gestellt. Militärbefehlshaber Alexander Freiherr von Falkenhausen (1878–1966), General der Infanterie, hatte seinen Sitz in Brüssel. Als Inhaber der Hoheitsgewalt war er für den Aufbau der Militärverwaltung, die Aufrechterhaltung von Ordnung, die Sicherheit der Besatzungstruppen und die Ausbeutung der stark industrialisierten und wirtschaftlich starken Gebiete zugunsten der deutschen Kriegswirtschaft verantwortlich. General Eggert Reeder (1894–1959), der in Belgien zum SS-Gruppenführer, Generalmajor der SS, befördert wurde, bekleidete den Posten des Chefs der deutschen Militärverwaltung. Er blieb von Juni 1940 bis Juli 1944 im Amt. Obwohl er faktisch dem Militärbefehlshaber Alexander von Falkenhausen unterstellt war, war es Reeder, der bei der Unterdrückung und Verfolgung sowohl von Jüdinnen und Juden als auch Zigeunern im besetzten Gebiet federführend war.

Die Ostkantone Belgiens – Eupen, Malmedy und Sankt Vith – waren Belgien nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und infolge des Versailler Vertrags 1919 zugesprochen worden. Diese Gebiete wurden nach der belgischen Niederlage ins Deutsche Reich eingegliedert. Dem ehemaligen staatlichen Territorium von Belgien wurden die französischen Departements Nord und Nord-Pas-de-Calais zugeordnet und unterstanden somit ebenfalls der deutschen Militärverwaltung in Brüssel. Diese Departements hatten aufgrund ihrer Nähe zum Vereinigten Königreich eine besondere strategische Bedeutung. Zudem sollten sich diese Gebiete gemäß der nationalsozialistischen Vision eines neuen Europas historisch, kulturell und ‚rassisch‘ so ähneln, dass sie eine ‚germanische Einheit‘ bildeten. Diese Vorstellung bestimmte den Umgang mit der Bevölkerung.

Der Militärbefehlshaber im besetzten Belgien und Nordfrankreich ließ ‚Zigeuner‘ auf dem ihm unterstehenden Territorium verhaften und deportieren, während in Frankreich die Verfolgungsmaßnahmen hauptsächlich aus Hausarrest [Assignation á residence] und Einweisung in Zwangslager [camps d’internement de nomades] bestanden.

Belgien und die französischen Departements Nord und Pas-de-Calais wurden in fünf Oberfeldkommandanturen (OFK) aufgeteilt: Brüssel, Charleroi, Gent, Lüttich und Lille.

Vermutlich aus strategischen Gründen und angesichts eines möglichen Angriffs des Vereinigten Königreichs wurde am 12. November 1940 eine deutsche Polizeiverordnung erlassen, die den ambulanten Handel in der Küstenzone, in beiden Teilen Flanderns und in der Provinz Bezirk Antwerpen, verbot. Rom:nja und Sinti:ze bildeten dabei nur eine Kategorie unter vielen. Das Verbot richtete sich gegen als ‚Reichsfeinde‘ angesehene Personengruppen: Juden:Jüdinnen, Engländer:innen, Norweger:innen, Pol:innen, Franzosen:Französinnen, Niederländer:innen, Staatenlose, die sich seit dem 1. Januar 1937 in Belgien befanden, seit dem 1. Januar 1933 eingewanderte Emigrant:innen aus Deutschland, seit dem 1. Januar 1938 eingewanderte Tschech:innen, ehemalige Mitglieder der Fremdenlegion und ‚Zigeuner‘.

Erfassung durch die Fremdenpolizei

Gérard Romsée (1901–1976), eine Führungsfigur des Vlaamsch Nationaal Verbond [VNV, Flämischer Nationalverband], wurde am 29. Juli 1941 von den deutschen Besatzern zum neuen Generalsekretär des belgischen Innenministeriums ernannt. Die 1933 gegründete flämisch-nationalistische Partei hatte während des Krieges zunehmend kollaboriert. Um die Jahreswende 1941 und 1942 verschärfte die belgische Ausländerpolizei, die dem Innenministerium unterstellt war, ihre Politik gegenüber Ausländer:innen. Die umfangreichen Akten, die die Fremdenpolizei über alle Ausländer:innen, aber auch Sinti:ze und Rom:nja anlegte, erleichterten ihre Lokalisierung und damit Verfolgung. Der Begriff ‚Ausländer‘ gewann schnell die Bedeutung von ‚unerwünscht‘. Die Fremdenpolizei legte keine Akten für diejenigen an, die vor dem Krieg in Belgien ansässig waren und die belgische Staatsangehörigkeit besaßen. Es war Romsée, der die Gemeindeverwaltungen anwies, die Personalausweise von Juden:Jüdinnen mit dem Stempel ‚Juden-Jood‘ zu versehen und der Sicherheitspolizei (Sipo) eine Kopie des Judenregisters zu übermitteln, womit ihnen ein unverzichtbares Instrument für die Organisation einer genozidalen Politik zur Verfügung stand.

Ende 1941 richtete sich eine administrative Maßnahme der Fremdenpolizei direkt gegen die Gruppe, die von den belgischen Behörden meist als ‚Romanichels‘ bezeichnet wurde. Die bis dahin geltende Regelung sah für sie die Ausstellung von ‚reiswijzer‘/‚feuilles de route‘ [‚Fahrtenblätter‘] vor. Es handelte sich dabei um Aufenthaltsdokumente mit Fotografien und Fingerabdrücken, die drei Monate lang gültig waren. Sie garantierten jedoch keine Aufenthaltsberechtigung: Gemeinden und Städten war es vorbehalten, die Anwesenheit der Inhaber:innen einzuschränken oder abzulehnen. Mit einem Rundschreiben vom 21. Dezember 1941 führte die Fremdenpolizei ein zweisprachiges Dokument ein: die ‚Carte de Nomade‘ bzw. ‚Zigeunerkaart‘ [‚Zigeunerkarte‘], welche die ‚reiswijzer‘ ersetzte. Vom 5. bis zum 20. Januar 1942 wurden alle ‚Zigeuner‘ über 15 Jahre von lokalen Gendarmeriebrigaden so lange festgehalten, bis die Ausstellung der Karten erfolgt war. Auch diese Papiere waren kein Ausweisdokument, sondern erneut eine provisorische Aufenthaltserlaubnis, die alle drei Monate durch die Fremdenpolizei verlängert werden musste. Am 5. jedes Monats mussten sich die Inhaber:innen einer solchen Karte bei der Gendarmerie melden. Mit der Einführung der ‚Zigeunerkaart‘ verfügten die Besatzungsbehörden über ein zusätzliches Instrument zur Erfassung einer Personengruppe, die bald das Ziel von Razzien und Deportationen werden sollte.

Flucht und erste Deportationen

Angesichts des Einmarschs der deutschen Wehrmacht flohen mehrere Familien der Sinti:ze und Rom:nja ab Mai 1940 nach Frankreich. Dort fielen sie jedoch unter das „Gesetz vom 16. Juli 1912 über die Ausübung von ambulanten Berufen“, das sie als Nomades kategorisierte, womit sie ‚carnets anthropométrique‘ [anthropometrische Ausweise] mit sich zu führen hatten. Sie verstießen auch gegen ein Dekret vom 6. April 1940, das „den Verkehr von Nomades während der Dauer der Feindseligkeiten“ untersagte. Mehrere nach Frankreich geflohene Familien saßen damit in der besetzten Zone fest. Die Familie von Edouard Maître (1919–unbekannt) wurde am 8. November 1940 in Rouen in der Normandie festgenommen, als sie versuchte, nach Belgien zurückzukehren, wo ihnen die Situation erträglicher erschien. Nach der Festnahme wurde die Familie, wie auch die Familien von Emile (1911–1945) und Joseph (1927–unbekannt) Maître, Jean-Pierre Thodor (1921–1944?), Joseph (1906–1944) und Auguste (1918– nach 1973) Vadoche, in das nächstgelegene Zwangslager Linas-Montlhéry (Departement Essonne) gebracht und von dort nach Montreuil-Bellay (Departement Maine-et-Loire).

Auch für die Familien, die aus Deutschland nach Belgien geflohen waren, bedeutete der Einmarsch der Wehrmacht eine Bedrohung. Dies gilt beispielsweise für die Familie Keck-Elster, die sich in Hasselt, Provinz Limburg, niedergelassen hatte, ebenso wie für die Weiss-Meinhardts, in Deutschland und den Niederlanden tätige Musiker, die in Maaseik, ebenfalls Provinz Limburg, ansässig geworden waren. Andere flohen nach Belgien, wo sie auf eine diplomatische Lösung hofften. Dies galt etwa für die Familie Modis aus Norwegen, die 1934 vergeblich versucht hatte, in ihr Heimatland zurückzukehren.

Im Gegensatz zu den Geflüchteten, die in Frankreich blieben und in den Lagern Linas-Montlhéry und Montreuil-Bellay interniert wurden, entschieden sich neun junge Männer im Alter von 16 bis 32 Jahren für eine Rückkehr nach Belgien. Sie waren in Belgien, Frankreich und Norwegen geboren und gehörten den Familien Gorgan (auch Gorgon), Modis, Taicon, Vadoche, Tailor und Songen (Sorgen) an. Am 6. Februar 1943 wurden sie von der Geheimen Feldpolizei 712 in Antwerpen festgenommen, in die Zitadelle von Huy und am 30. August in das Gefängnis Saint-Gilles in Brüssel verlegt, um schließlich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert zu werden. Sieben von ihnen starben in Auschwitz-Birkenau, einer gilt ohne weitere Angaben als vermisst. Josef Tailor (1911–1944) und Alfred Songen (1907–1944) wurden am 24. Mai 1944 im Konzentrationslager Flossenbürg registriert, wo Alfred Songen am 11. Dezember 1944 und Josef Tailor am 1. Februar 1945 starb. Einzig der damals 19-jährige Joseph Collicon-Taicon (1926–unbekannt), der am 3. August 1944 aus Auschwitz-Birkenau nach Buchenwald überstellt worden war, überlebte diese erste Verhaftungswelle.

Deportation nach Auschwitz-Birkenau

Mit dem Auschwitz-Erlass ordnete Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900–1945) am 16. Dezember 1942 die Deportation aller ‚Zigeuner‘ aus dem Reichsgebiet an, am 29. März 1943 wurde der Befehl auch für Belgien und Nordfrankreich erteilt. Diese Anordnung bedrohte die Existenz der kleinen Gruppe der Sinti:ze und Rom:nja in Belgien und Nordfrankreich. Ab Mitte Oktober bis Anfang Dezember führten Angehörige der deutschen Feldgendarmerie, in Nordfrankreich auch örtliche Polizisten, groß angelegte Razzien und Verhaftungen durch. Es ist nicht bekannt, wie viele Sinti:ze und Rom:nja sich der Verhaftung durch Flucht und Untertauchen entziehen konnten, aber zahlreiche Beispiele, etwa aus Roubaix oder Tournai, belegen, dass es viele versuchten und einige auf diese Weise überleben konnten.

Festgenommen wurden in verschiedenen Städten schließlich 352 Männer, Frauen und Kinder, die – zum Teil über Gefängnisse oder Sammellager – in das ‚SS-Sammellager für Juden‘ in Mechelen eingewiesen wurden. Dieses Lager war im Juli 1942 in Mechelen in der Kaserne Dossin,gelegen zwischen Antwerpen und Brüssel, errichtet und für die Sicherheitspolizei von der deutschen Militärverwaltung für die Umsetzung der Deportation der jüdischen Bevölkerung zur Verfügung gestellt worden. Zwischen 1942 und 1944 wurden 25 843 Männer, Frauen und Kinder aus dem Lager in Mechelen deportiert. Siebenundzwanzig Transporte brachten 25 272 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau, wo die meisten von ihnen ermordet wurden. Hinzu kam am 15. Januar 1944 ein einziger Transport von 352 Sinti:ze und Rom:nja, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder, der als ‚Transport Z‘ bezeichnet wurde und ebenfalls nach Auschwitz-Birkenau führte. Nur 32 überlebten. Nach dieser ersten Deportation wurde der Rom Stevo Karoli (1925–unbekannt) im 25. Transport aus Mechelen zusammen mit Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er überlebte und kehrte 1945 nach Belgien zurück.

Auch wenn es in Belgien und Nordfrankreich nur zu einer großen, rassistisch motivierten Deportation von Sinti:ze und Rom:nja kam, so muss festgehalten werden, dass damit die kleine Gemeinschaft der Minderheit in Belgien um siebzig Prozent ihrer Mitglieder beraubt wurde.

Kriegsende und Nachkriegszeit

Am 18. Juni 1944 wurde die Militärverwaltung im deutsch besetzten Belgien und Nordfrankreich durch eine dem Gauleiter von Köln, Josef Grohé (1902–1987), unterstehende Zivilverwaltung ersetzt. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die besetzten Gebiete mit einem Minimum an deutschen Kräften bei weiterer Einbeziehung lokaler Institutionen zu kontrollieren. Diese neue Struktur führte am Vorabend der Ankunft der alliierten Truppen nicht zu einer Änderung der Besatzungspraxis.

Die alliierten Truppen erreichten am 2. September 1944 belgisches Territorium, und am 12. September war nahezu das gesamte Gebiet befreit. Die „Ardennen-Offensive“ vom Dezember 1944, eine der letzten deutschen Offensiven an der Westfront, verlangsamte die vollständige Befreiung Belgiens, die erst am 4. Februar 1945 erfolgte. Die nach London geflohene belgische Regierung Pierlot war bereits im September 1944 wieder nach Brüssel zurückgekehrt.

Nur 33 Menschen hatten die Deportationen aus Mechelen überlebt. Überlebt haben auch einige der Sinti:ze und Rom:nja, die in „Arbeitshäusern“ eingesperrt gewesen waren und dadurch der Deportation entgingen.2Die Anzahl derjenigen, die auf diese Weise überlebten, ist nicht bekannt; hierzu bedarf es weiterer Forschung.

Die Überlebenden hatten fast alle ihre Angehörigen verloren, waren durch Lagerhaft und Zwangsarbeit psychisch und physisch schwer geschädigt. Ihr gesamter Besitz, ihre Wohnungen oder Wohnwägen waren beschlagnahmt worden und die Deportierten kamen mittellos zurück nach Belgien oder Frankreich. In beiden Ländern erwartete sie kaum Unterstützung, im Gegenteil, sie waren isoliert. Diskriminierende Maßnahmen, wie beispielsweise die erst 1975 abgeschafften ‚Zigeunerkarten‘, drängten sie erneut an den Rand der Gesellschaft, oftmals in die Illegalität. Überlebende, die in Belgien einen Antrag auf Anerkennung als politische Gefangene stellten, wurden abgelehnt.3Archives de lʼÉtat en Belgique [Generalstaatsarchiv Belgien], Service Archives des Victimes de la Guerre, SDR 183 872, Cal Clara, 14/01/1925; SDR 8.401, Karoli Stevo/Caroli Steven, 26/08/1925.

Während der belgische Staat 1997 eine Kommission einsetzte, um den Raub des Vermögens der verfolgten Juden:Jüdinnen zu untersuchen,4Commission Buysse, Les biens des victimes des persécutions anti-juives en Belgique: Spoliation, Rétablissement des droits, Résultats de la Commission d’étude. Rapport final de la Commission d’étude sur le sort des biens des membres de la Communauté juive de Belgique spoliés ou délaissés pendant la guerre 1940–1945, juillet 2001, https://combuysse.prd.excom.fgov.be/fr/commission-detudes-des-biens-juifs [Zugriff: 28.02.2024]. fehlte es an vergleichbaren Initiativen im Hinblick auf die Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja. Bei dem ihnen gestohlenen Eigentum handelte es sich überwiegend um bewegliches Eigentum: Wohnwagen und Gespanne, Geld, Schmuck, Pferde, Maultiere, Musikinstrumente und Werkzeug. Nur in Ausnahmefällen besaßen sie Immobilien, Bankkonten oder andere Finanzanlagen.5Heddebaut, Des Tsiganes vers Auschwitz, 241250. Nur wenigen gelang es, einen Teil davon wiederzuerlangen.

Historische Aufarbeitung

Die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja in Belgien erreichte erst sehr spät eine größere Öffentlichkeit. Dafür gibt es mehrere Gründe: die verschwindend geringe Zahl von Überlebenden, das Misstrauen von Überlebenden gegenüber der Gesellschaft sowie die Vorurteile und Ressentiments, die in der Gesellschaft bis heute bestehen und die mit dazu führten, dass dem Leid und den Morden mit Desinteresse begegnet wurde. Auch in der Wissenschaft ist das Thema erst sehr spät aufgegriffen worden.

José Gotovitch (1940–2024) veröffentlichte 1976 einen ersten allgemeinen Überblick über die Ermordung der aus Mechelen deportierten Sinti:ze und Rom:nja und leistete damit Pionierarbeit. Der Holocaustforscher Maxime Steinberg (1936–2010) befasste sich seit Ende der 1970er-Jahre zunächst oberflächlich und in den 1990er-Jahren eingehender mit dem Thema. Er war an der Gründung des Jüdischen Museums der Deportation und des Widerstands [Joods Museum van Deportatie en Verzet (JMDV) / Musée juif de la Déportation et de la Résistance (MJDR)] beteiligt und sorgte dafür, dass die Deportation der Sinti:ze und Rom:nja erwähnt wurde.

Erst seit den 2000er-Jahren stieg das Interesse an der Geschichte der Sinti:ze und Rom:nja im 20. Jahrhundert. Nach einer vom Senat (der Senat bildet mit der Abgeordnetenkammer das belgische Parlament) in Auftrag gegebenen Studie veröffentlichte einer der Autoren, der Historiker Rudy Van Doorslaer (geb. 1951), einen Artikel über die Enteignung der Sinti:ze und Rom:nja während der deutschen Besatzung. Maxime Steinberg und Laurence Schram (geb. 1968) erarbeiteten gemeinsam mehrere Veröffentlichungen, darunter den Katalog der belgischen Ausstellung im Museum der Gedenkstätte Auschwitz (2007) und „Mecheln-Auschwitz 1942–1944. Die Vernichtung der Juden und Zigeuner in Belgien“ (2009). Diese vier Bände enthalten eine allgemeine historische Zusammenfassung und Kontextualisierung jedes Transports, der von der Kaserne Dossin abging, sowie eine Liste und Porträts der Deportierten.

2008 befasste sich der Historiker Frank Seberechts (geb. 1961) mit der administrativen Behandlung der Sinti:ze und Rom:nja durch den belgischen Staat und die nationalsozialistischen Besatzer. Der unveröffentlichte Bericht zeichnet sich durch die Verwendung einer Vielzahl von Quellen aus. Ab 2012 veröffentlichte die norwegische Historikerin Maria Rosvoll (geb. 1973) mehrere Studien, die sich auf die aus dem deutsch besetzten Belgien deportierten norwegischen Rom:nja konzentrieren. Monique Heddebaut (geb. 1955) erforschte in ihrer 2013 erstellten und 2018 als Buch publizierten Dissertation erstmals ausführlich die als ‚Transport Z‘ bekannte Deportation vom Mai 1944. Ihre Untersuchung, die sich ausführlich der Vor- und Nachgeschichte der Deportation widmet, gilt mittlerweile als Standardwerk. Laurence Schram widmete ein Kapitel ihrer Doktorarbeit (2015) und ihres Buches (2017) über die Kaserne Dossin ebenfalls der Verfolgung und Deportation der Sinti:ze und Rom:nja.

Gedenken

Es dauerte knapp 50 Jahre, bis am 3. Juni 1995 eine Gedenktafel am historischen Ort des ehemaligen ‚SS-Sammellagers‘ Mechelen angebracht wurde, die an die Internierung und Deportation der Sinti:ze und Rom:nja erinnert. Die Initiative ging vom Vlaams Overleg Woonwagenwerk (VOW) und dem Consistoire central israélite de Belgique/Centraal Israëlitisch Consistorie van België [CCIB, Zentrales Israelitisches Konsistorium von Belgien] aus. Der VOW, ein Dachverband mehrerer Organisationen, wurde 1977 gegründet und setzte sich für die Belange von Woonwagenbewoners [Wohnwagenbewohner:innen] ein. Dazu gehörten die Interessenvertretung gegenüber dem Staat und seinen Behörden, Bildungsangebote, die Einrichtung von Stellplätzen, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und individuelle Unterstützung bei Behördengängen. Die Tafel in Mechelen ist die bislang einzige in Belgien, die an den Völkermord erinnert.

Nach ersten Anfängen im Jahr 1995 hat sich auf dem Gelände des ehemaligen ‚SS-Sammellagers‘ eine Gedenkstätte entwickelt, die im Jahr 2012 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Der Erinnerungsort „Kazerne Dossin – Gedenkstätte, Museum und Dokumentationszentrum für Holocaust und Menschenrechte“ behandelt heute die Verfolgung und Ermordung von Sinti:ze und Rom:nja in seiner Dauerausstellung sowie in weiteren Formaten, wie Wanderausstellungen und Gedenkveranstaltungen.

Einzelnachweise

  • 1
    Die „Arbeitshäuser“ in Belgien waren ein Erbe aus der Zeit der niederländischen und später der französischen Besatzung. Hier wurden Bettler, Alkoholiker, Prostituierte und andere als störend empfundene Personen eingesperrt und zur Arbeit herangezogen. Mit der Gründung des belgischen Staates wandelte sich ihr Charakter, je nach Regierung schwankten sie zwischen Wohltätigkeit (‚Wohlfahrtskolonien‘) und Repression (strafende Einsperrung, ‚Arbeitshäuser‘).
  • 2
    Die Anzahl derjenigen, die auf diese Weise überlebten, ist nicht bekannt; hierzu bedarf es weiterer Forschung.
  • 3
    Archives de lʼÉtat en Belgique [Generalstaatsarchiv Belgien], Service Archives des Victimes de la Guerre, SDR 183 872, Cal Clara, 14/01/1925; SDR 8.401, Karoli Stevo/Caroli Steven, 26/08/1925.
  • 4
    Commission Buysse, Les biens des victimes des persécutions anti-juives en Belgique: Spoliation, Rétablissement des droits, Résultats de la Commission d’étude. Rapport final de la Commission d’étude sur le sort des biens des membres de la Communauté juive de Belgique spoliés ou délaissés pendant la guerre 1940–1945, juillet 2001, https://combuysse.prd.excom.fgov.be/fr/commission-detudes-des-biens-juifs [Zugriff: 28.02.2024].
  • 5
    Heddebaut, Des Tsiganes vers Auschwitz, 241250.

Zitierweise

Monique Heddebaut / Laurence Schram: Belgien, in: Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa. Hg. von Karola Fings, Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, Heidelberg 6. Mai 2024.-

1934
7. Januar 193464 norwegische Rom:nja werden aus Belgien ausgewiesen und verlassen das Land in Richtung Oslo, Norwegen. Zwei Tage später gehen sie in Hamburg, Deutschland, an Bord eines Schiffes. Bei der Ankunft in Trelleborg, Schweden, werden sie von den Behörden abgewiesen und müssen mit dem Schiff nach Hamburg zurückkehren.
7. März 1934Die deutsche Polizei eskortiert eine Gruppe von über 60 norwegischen Rom:nja bis zum belgischen Grenzort Herbestahl. Dort werden sie vorläufig aufgenommen, um Verhandlungen mit Norwegen über ihre Rückführung zu führen. Norwegen lehnt eine Einreise der Rom:nja ab. Die meisten von ihnen werden rund zehn Jahre später in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
1940
6. April 1940Die Regierung in Frankreich ordnet den „Hausarrest“ für „Nomades“ auf dem gesamten französischen Staatsgebiet an. Damit wird die Freizügigkeit für Sinti:ze und Rom:nja per Dekret abgeschafft.
10. Mai 1940Deutschland erweitert den Krieg auf den Westen Europas; die Wehrmacht marschiert in Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden ein.
12. November 1940Im deutsch besetzten Belgien und Nordfrankreich wird der ambulante Handel in der Küstenzone (Flandern und Antwerpener Bezirk) verboten. Obwohl diese Maßnahme Sinti und Roma nicht ausdrücklich erwähnt, hat sie direkte Auswirkungen auf ihre berufliche Tätigkeit.
16. Dezember 1940Die elfköpfige Familie Marinkovitch wird an ihrem Wohnort Calais (deutsch besetztes Nordfrankreich) verhaftet, weil dieser zur „Verbotenen Küstenzone“ gehört, und in das Landesinnere von Frankreich abgeschoben.
1941
10. April 1941Die Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich verbietet den Aufenthalt von Sinti:ze und Rom:nja in der Küstenzone (Ost- und Westflandern sowie Bezirk Antwerpen).
1943
6. Februar 1943Neun Sinti und Roma, Männer im Alter zwischen 16 und 32 Jahren, werden in der ‚Verbotenen Küstenzone‘ in Antwerpen, deutsch besetztes Belgien, verhaftet. Über das Gefängnis in Antwerpen, die Zitadelle von Huy und das Gefängnis Saint-Gilles in Brüssel werden sie nach Deutschland überführt und im November 1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur einer von ihnen, Joseph Collicon, überlebt.
29. März 1943Das Reichssicherheitshauptamt ordnet die Deportation von Rom:nja und Sinti:ze aus deutsch besetzten Gebieten und Ländern (Belgien, Bezirk Bialystok, Elsass, Lothringen, Luxemburg, Niederlande und Nordfrankreich) in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an.
Oktober – Dezember 1943Im Bereich des deutschen Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich werden Razzien durchgeführt, die ergriffenen Sinti:ze und Rom:nja anschließend in das ‚SS-Sammellager‘ Mechelen überführt, um sie von dort deportieren zu können.
23. November 1943In Tournai, deutsch besetztes Belgien, werden 19 Mitglieder der Familie Karoli von der Feldgendarmerie verhaftet.
9. Dezember 1943Die deutsche Kriminalpolizei im Bereich des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich erstellt eine Liste mit den Namen von 351 Sinti:ze und Rom:nja, die für eine Deportation vorgesehen sind. Eine Frau, Jeanne Royenne Vados, wird später mit deportiert, ohne auf dieser Liste registriert gewesen zu sein.
1944
15. Januar 1944Aus dem ‚SS-Sammellager‘ Mechelen, deutsch besetztes Belgien, werden 352 Männer, Frauen und Kinder mit dem ‚Transport Z‘ bezeichneten Zug in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie zwei Tage später eintreffen. Die einjährige Georgette Hédouin stirbt während des Transportes.
19. Mai 1944In den deutsch besetzten Niederlanden werden 245 Sinti:ze und Rom:nja sowie 208 Juden:Jüdinnen vom Durchgangslager Westerbork in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. In Assen, deutsch besetzte Niederlande, werden zwölf Sinti:ze und Rom:nja in diesen Zug verladen. Dank der Hilfe eines Polizisten kann Zoni Weisz mit Tante und Cousins dieser Deportation entkommen. Ein Deportationszug aus Mechelen (Dossin-Kaserne), deutsch besetztes Belgien, wird unterwegs an den Zug aus Westerbork gekoppelt; in diesem Zug befindet sich ein Rom namens Stevo Karoli.
2. – 3. August 1944Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August die etwa 4 200 bis 4 300 im Lagerbereich BIIe verbliebenen Sinti:ze und Rom:nja in den Gaskammern ermordet.
2. September 1944Alliierte Truppen befreien erste Gebiete des deutsch besetzten Belgiens und Nordfrankreichs.
1945
4. Februar 1945Belgien ist vollständig von der deutschen Besatzung befreit.
1947
26. Februar 1947In Belgien wird nur dann eine Entschädigung gewährt, wenn die Verhaftung während der deutschen Besatzungszeit durch eine „selbstlose patriotische Aktivität“ verursacht worden war. Da rassistische Gründe nicht berücksichtigt werden, werden Sinti:ze und Rom:nja, die das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt haben, nicht entschädigt.
1975
15. Januar 1975In Belgien schafft ein königlicher Erlass die ‚Zigeunerkarten‘ ab.
1995
7. Mai 1995Am Ort des ehemaligen ‚SS-Sammellagers‘ in Mechelen, Belgien, findet die offizielle Einweihung des Joods Museum van Deportatie en Verzet / Musée juif de la Déportation et de la Résistance [Jüdisches Museum der Deportation und des Widerstands] statt.
3. Juni 1995An die Fassade des ehemaligen ‚SS-Sammellagers‘ in der Kaserne Dossin in Mechelen, Belgien, wird eine Gedenktafel angebracht, die an die Internierung von Sinti:ze und Rom:nja in Mechelen und ihre Deportation erinnert.
2012
4. September 2012In der Kaserne Dossin, ehemaliges ‚SS-Sammellager‘ in Mechelen, Belgien, wird der erste Teil der Gedenkstätte eingeweiht. Am 2. November 2012 wird auch das neue Gebäude, das fortan als „Kazerne Dossin – Gedenkstätte, Museum und Dokumentationszentrum für Holocaust und Menschenrechte“ betrieben wird, eröffnet.