Die Verfolgung und Ermordung der Rom:nja und Sinti:ze im deutsch besetzten Polen zählt zu den am wenigsten erforschten Themen. Dieser Beitrag soll einen ersten Eindruck von einem wesentlichen Aspekt der Mordpolitik gegenüber den polnischen Rom:nja verschaffen: Sie wurden in großer Zahl an Ort und Stelle erschossen.
Besatzung, Terror und Völkermord
Da es zu Polen und dem Generalgouvernement derzeit noch keine eigenständigen Lemmata gibt, soll vorab kurz in die Zerschlagung Polens und die Gründung des Generalgouvernements eingeführt werden. Polen wurde nach dem Überfall des Deutschen Reiches am 1. September 1939 gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt im Westen von Deutschland und im Osten von der Sowjetunion besetzt und hatte damit zu existieren aufgehört. Deutschland annektierte die westlichen polnischen Landesteile (Oberschlesien, Reichsgau Wartheland, Danzig-Westpreußen und Regierungsbezirk Zichenau) als neue Reichsgebiete. Die übrigen Gebiete wurden als Generalgouvernement ab dem 12. September 1939 von einer deutschen Besatzungsverwaltung beherrscht.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 annektierte Deutschland auch den Bezirk Bialystok und schloss im August 1941 den Distrikt Galizien an das Generalgouvernement an. Die polnische Bevölkerung war unter deutscher Besatzung einem brutalen und gezielten Terror ausgesetzt, der zum Tod von schätzungsweise 1,8 bis 1,9 Millionen polnischen, nichtjüdischen Zivilist:innen führte. Im Rahmen der systematischen Ermordung des europäischen Judentums wurden außerdem etwa drei Millionen polnische Jüdinnen:Juden um ihr Leben gebracht, die meisten in den Vernichtungslagern, die – bis auf Auschwitz-Birkenau und Kulmhof – auf dem Gebiet des Generalgouvernements eingerichtet worden waren (Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka).
Verfolgung und Ermordung polnischer Rom:nja
Die meisten Rom:nja – darunter wohl auch einige Sinti:ze – aus den deutsch besetzten polnischen Gebieten wurden seit dem Frühjahr 1943 gemäß dem „Auschwitz-Erlass“ in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Das Ausmaß dieser Deportationen und ihr zeitlicher Ablauf ist bis heute nicht im Detail erforscht. Auch im Generalgouvernement fanden Deportationen von Rom:nja in Konzentrations- und Vernichtungslager statt, allerdings fehlt es auch hierzu an Forschung. Gesichert ist, dass polnische Rom:nja auch in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ zu Tode gebracht wurden. Tausende wurden aber außerhalb von Lagern ermordet, und zwar auf dem Gebiet des Generalgouvernements.
Die Forschungen von Piotr Kaszyca
Der polnische Historiker Piotr Kaszyca hat 1998 auf Deutsch eine tabellarische Übersicht veröffentlicht, in der 167 Mordaktionen an Rom:nja aufgelistet sind, die während der Jahre 1939 bis 1945 im Generalgouvernement stattgefunden haben.1Kaszyca, Die Morde an Sinti und Roma. Die Angaben basieren größtenteils auf den Unterlagen, die sich in der früheren „Hauptkommission für die Untersuchung von Hitlerverbrechen in Polen“ [Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce] befanden, und scheinen bis 1991 erhoben worden zu sein.2Ebd., 141. Die Liste berücksichtigt nicht den Distrikt Galizien. Sie ist nach Woiwodschaften sortiert und innerhalb der Woiwodschaften chronologisch nach dem Tatzeitraum. Dann werden Angaben zu dem Ort der Ermordung, der Anzahl der Ermordeten, den Einheiten, denen die Täter angehörten (vor allem Gendarmerie, SS, Gestapo, Polizei) und die Art der Morde (vor allem Erschießungen) gemacht. Ergänzend werden teilweise nähere Informationen zu der Hinrichtungsstätte, dem Verbleib der Leichname, den Tatumständen oder der Herkunft der Opfer angegeben.
Kaszyca hat ermittelt, dass 24 Prozent der Morde im Jahr 1942 und 50 Prozent im Jahr 1943 begangen wurden. Unter den Opfern waren vor allem polnische Rom:nja, es gab aber auch vereinzelt Hinrichtungen von deutschen Sinti:ze und Rom:nja, die im Rahmen der Mai-Deportation von 1940 in das Generalgouvernement deportiert worden waren. Er schätzte die Anzahl der in seiner Tabelle dokumentierten Morde auf etwa 3 600 Personen.3Ebd., 122. In einer Fußnote wies er darauf hin, dass er seit 1991 seine Forschungen fortgesetzt habe und nunmehr 188 nachweisbare Hinrichtungsstätten mit einer Opferzahl von etwa 4 200 Rom:nja benennen könne.4Ebd., 143.
Aufbereitung der Daten
Die Forschungsergebnisse von Piotr Kaszyca scheinen in der Wissenschaft kein größeres Echo gefunden zu haben. Nur einige wenige der in seiner Liste aufgeführten Verbrechen sind näher untersucht worden, so etwa die Morde an den Rom:nja in Szczurowa. Vor dem Hintergrund der schlechten Forschungslage zu Polen knüpft die Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa daher an Kaszycas Forschungen an und hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele der Massaker in der Enzyklopädie zu dokumentieren. Vielleicht regt dies auch zu weiteren Forschungen an.
Als erster Schritt wurden die Daten im Jahr 2021 von einem damaligen Mitarbeiter, dem Historiker Ingo Eser (geb. 1969), in einer Datenbank erfasst. Zusätzlich recherchierte Ingo Eser weitere Informationen zu den Tatorten in der Liste und Tatorte, die noch nicht in der Liste von Piotr Kaszyca enthalten waren.
Publikation in der Enzyklopädie
In einem nächsten Schritt wurden die Daten exportiert, um sie für die Publikation in der Enzyklopädie vorzubereiten. Unter der Federführung von Diana Partel (geb. 2001) und der Mitarbeit von Nils Lützen (geb. 1995) wurden die angegebenen Ortsnamen in teils aufwändigen Recherchen überprüft und zum Teil korrigiert. Bei der Klärung von Ortsnamen unterstützte uns der polnische Kollege Igor de Lendorff. Auf dieser Grundlage wurden die Geodaten der Tatorte ermittelt, um sie in dem auf Open Encyclopedia System basierenden Backend der Website der Enzyklopädie als georeferenzierte Räume einzugeben. Dann wurden diese Daten mit der dynamischen Karte „Kartierung der Verbrechen“ verknüpft, in der alle in der Enzyklopädie behandelten Tatorte von an Sinti:ze und Rom:nja begangenen Verbrechen zusammengeführt werden. Die Ortsnamen wurden zudem in den Index dieses Lemmas aufgenommen, um sie sichtbar werden zu lassen.
Die korrigierte Liste mit den Ortsnamen sowie die dazu ermittelten Geodaten waren außerdem die Grundlage für die thematische Karte „Massaker im Generalgouvernement“, die der Berliner Kartograph Peter Palm (geb. 1966) eigens für eine Publikation in der Enzyklopädie angefertigt hat.
Ausblick
Derzeit wird an der Aufbereitung der Liste von Piotr Kaszyca mit allen darin enthaltenen Angaben für eine Publikation in diesem Lemma gearbeitet. Zum einen soll die Fülle der darin enthaltenen Informationen ebenfalls zugänglich gemacht werden. Zum anderen können auf dieser Grundlage weitere Forschungen vorangetrieben werden.